“Links”, “rechts” und so weiter: Wie wenig unsere Begrifflichkeiten im globalen Vergleich weiterhelfen

by Prof. Dr. Klaus Buchenau (Professor of History of Southeast and Eastern Europe at the University of Regensburg)

Medellín, Kolumbien by Prof. Dr. Klaus Buchenau

Globale Verständigung ist ein Kunststück – vor allem dann, wenn Wörter zwar gleich aussehen, aber in jeder Region ihre eigene Bedeutung haben. So meinen die politischen Begriffe Rechts und Links in Lateinamerika nicht dasselbe wie in Südosteuropa. Die Missverständnisse, die sich daraus ergeben, haben historische Ursachen, die bis in die Kolonialzeit zurückgehen.

Mutual understanding on a global scale is no small task - especially when words seem the same but actually have their own meaning in each region. For example, the political terms ``right`` and ``left`` do not mean the same thing in Latin America as they do in southeastern Europe. The misunderstandings that arise from this have historical origins that go back to colonial times.

Einführung

Vor kurzem gewann in Argentinien ein Mann die Präsidentschaftswahl, der in der westlichen Presse als „rechts“, „rechtspopulistisch“ oder gar „rechtsaußen“ gerahmt wird. Javier Mileis wichtigste politische Botschaft ist, die Rolle des Staates drastisch zurückzufahren und die Gesetze des Marktes walten zu lassen. Dieselben Medien lassen dieselben Attribute der ungarischen Regierungspartei Fidesz angedeihen, die aber für etwas ganz anderes steht: die Stärkung der ungarischen Ethnonation, Abwehr von Migration, die Schwächung der Gewaltenteilung, und nicht zuletzt für einen starken Staat, der die Altersvorsorge wieder in eigene Regie genommen hat. Offenbar haben die Begriffe Rechts und Links im (süd)östlichen Europa und in Lateinamerika unterschiedliche Bedeutungen angenommen, was wir uns aber in aller Regel nicht bewusst machen.

Es geht um das Erbe der Imperien, welches durch das Schlagwort „Postkolonialismus“ eher vernebelt als erklärt wird, denn der postkoloniale Blick neigt dazu, die Welt vereinfachend in kolonisierende Täter und kolonisierte Opfer aufzuteilen. Was dabei verloren geht, ist der unterschiedliche Charakter von Imperien, von Land- und Seereichen. Das postkoloniale Konzept wurde vor allem an den Seereichen entwickelt, zu denen auch das Spanische Kolonialreich gehörte. Hinter ihrer Expansion standen (Gewalt)Unternehmer, die es geschafft hatten, ihrem Gewinnstreben die Insignien und den militärischen Schutz der jeweiligen Krone zu sichern, welche an dem Unternehmen ebenfalls mitverdiente. Spanien und seinen Konquistadoren ging es um die Edelmetalle und später auch um die Agrarprodukte Lateinamerikas, deren Gewinnung nur möglich war, wenn man die indigene Bevölkerung bzw. aus Afrika importierte Sklaven zwang, die eigentliche manuelle Arbeit in Bergwerken, auf Haciendas und Latifundien zu leisten. In dieser Wirtschaftsweise liegt die Wurzel für eine steile, durch Unterschiede der Hautfarbe befestigte Sozialpyramide.

Hochmoderne Drahtseilbahn schwebt über Armutsviertel hinweg: die kolumbianische Großstadt Medellín by Prof. Dr. Klaus Buchenau

Als Spanien infolge der napoleonischen Invasion Anfang des 19. Jahrhunderts die Kontrolle über seine Kolonien verlor, nutzte der dort verwurzelte Teil der Kolonialelite die Gunst der Stunde, die aus Spanien entsandten Aufseher loszuwerden, und erklärte die Unabhängigkeit für das jeweils von ihnen beaufsichtigte Gebiet. So zerfiel das Spanische Kolonialreich entlang seiner Binnengrenzen; obwohl man sich dem Geist der Zeit entsprechend republikanische Verfassungen gab, blieb die Sozialpyramide weitgehend unangetastet. Das Problem der neuen Nationen waren weniger die äußeren Feinde – Grenzkriege mit den lateinamerikanischen Nachbarn waren vergleichsweise selten und ethnokulturelle Unterschiede konnten nur schwer zur Konstruktion von „Erbfeindschaften“ zwischen den neuen Staaten der Region herangezogen werden. Die wahre Hypothek war die innere Ungleichheit zwischen den Nachfahren europäischer Einwanderer einerseits, den indigenen und schwarzen Gemeinschaften andererseits, sowie den Mestizos („Mischlinge“), die ethnisch wie sozial eine Art Übergang zwischen oben und unten bildeten. Was Lateinamerika traditionell unter rechts und links versteht, bildete sich vor diesem Hintergrund heraus: Rechts ist, wer die Privilegien der Oberschicht für gerechtfertigt hält; links, wer Gleichheit einfordert, sei es auf radikalem revolutionärem Weg oder durch reformistische Umverteilung.

In (Süd)Osteuropa dagegen herrschten die Landimperien. Ihre Expansion war oft weniger von wirtschaftlichen als von militärischen Logiken getrieben, so dass man bereitwillig in Gebiete vorstieß, für die man noch gar keinen wirtschaftlichen Plan hatte. Die Notwendigkeit, die eroberten Menschen zu bestimmten Tätigkeiten zu zwingen, sie gar zu versklaven, entfiel häufig. Die Landverbindung zwischen dem Zentrum und seinen kolonialen Peripherien ermöglichte breite Migrationsströme, die alle Schichten der kolonisierenden Gruppe umfasste, auch die einfache Bevölkerung. Der Gedanke, dass im Russischen Reich ein Russe sozial immer oben, ein Fremdstämmiger immer unten stehen müsse, war in diesem Kontext unplausibel; ähnlich war es im Osmanischen Reich und bei den Habsburgern. So standen an der Wolga russische neben tatarischen Dörfern, in der Vojvodina deutsche neben slowakischen, und in der Dobrudscha türkische neben bulgarischen.

Auch in den Landimperien gab es eine Sozialpyramide, allerdings war diese weniger ethnisiert, der Effekt unterschiedlicher Hautfarben war ebenfalls schwächer. Die Dekolonialisierung wurde hier nicht so sehr von ehemaligen Kolonialeliten betrieben, sondern von nationalen Bewegungen, welche auf sich auf einen ethnischen Kern beriefen. Das Bestreben der postkolonialen Nachfolgestaaten war auf ethnische Homogenität gerichtet. Weil auf engem Raum oft mehrere ethnische Nationsprojekte miteinander konkurrierten, folgten auf die Dekolonisierung Kriege, Vertreibungen und andere Formen der ethnischen Gewalt, welche das nationale Prinzip dann vollends in den Herzen und Köpfen verankerten.

Die Folge war, dass im östlichen Europa das ethnische Denken auch tief in das Rechts-Links-Schema einwanderte. „Rechte“ in Südosteuropa wollen die Ethnonation erhalten, sie gegen die ethnisch anderen Nachbarn, aber auch vor „ethnisch unpassender“ Migration schützen. Sie imaginieren die Nation als traditionelle Familie, was einen gewissen Grad an Ungleichheit (zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern), aber auch an Intimität voraussetzt – wird die Pyramide allzu steil, ist man eben keine Familie mehr.

Communist propaganda - Nicolae and Elena Ceausescu by Gabriel - Flickr

Kompliziert ist es mit der Linken – sie grenzt sich zwar vom offenen Ethnonationalismus der Rechten ab, kommt aber gegen diesen nicht wirklich an – siehe den tito-jugoslawischen Nationalitätenproporz, den albanischen oder rumänischen Nationalkommunismus des Kalten Krieges. Im Vergleich zu lateinamerikanischen Linken ist das ethnonationale Paradigma tief in beide Seiten des Rechts-Links-Schemas eingedrungen. Weil die „Rechten“ mit ihren exklusiven Nationsvorstellungen in der Regel auf internationalem Parkett Probleme bekommen, eröffnete sich den eigentlich diskreditierten „Linken“ nach 1989 eine neue Daseinsberechtigung – nämlich diejenigen zu sein, die geschmeidig das neue neoliberale Dogma und die EU-Integration voranbrachten. So setzte in Ungarn die Sozialistische Partei (MSZP) die Privatisierung von Rentenkassen und Energieversorgung durch; es war die Rechte, also Orbáns Fidesz, die beides wieder zurücknahm.

Fazit

Mit anderen Worten – „links“ hat in Lateinamerika viel von seinem ursprünglichen Wortsinn erhalten, im östlichen Europa ist der Wortsinn dagegen durch das realsozialistische Experiment, eine Symbiose mit Nationalismus und Pragmatismus verwässert. „Rechts“ verweist in Lateinamerika auf die Rechtfertigung von Ungleichheit, im östlichen Europa auf die Rechtfertigung der Nation. Dass die ungarische Fidesz „rechts“ nur in einem spezifisch (süd)osteuropäischen Sinne ist, sollte klargeworden sein. Was aber ist mit Milei in Argentinien? Er scheint weder nach lateinamerikanischen noch nach südosteuropäischen Maßstäben rechts zu sein. Nennen wir ihn also, wie er sich selbst nennt: libertär.

Weiterführende Literatur:

Bethell, Leslie: Latin America since 1930. Ideas, culture and society. Cambridge 1995.

Blendi Kajsiu: Nationalist versus Populist Constructions of “the People”: Eastern Europe and Latin America in Comparative Perspective, in: East European Politics and Societies and Cultures (online first, 18.10.2023, https://doi.org/10.1177/08883254231194262)

Kumar, Krishan: Visions of Empire. How five imperial regimes shaped the world. Princeton, Oxford 2017.
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