Qualitative Südosteuropa-Forschung mithilfe sozialer Medien

Evelyn Reuter (Gastwissenschaftlerin an der Universität Graz)

Soziale Medien sind als Quelle für Nachrichten, Unterhaltung und Kommunikation allgegenwärtig. Mittlerweile gehören sie auch in der Wissenschaft zum Alltag dazu. Während sie in erster Linie als Plattform zur Verbreitung von Forschungsergebnissen betrachtet werden, bieten sie sich zugleich als vielseitige Datenquellen und interessanten Forschungsgegenstand an. Dies zeigt sich besonders deutlich in Regionalstudien wie der Südosteuropa-Forschung, wo soziale Medien neue Einblicke in die Lebenswelt der Menschen dieser Region ermöglichen. Der Beitrag zeigt Chancen und Herausforderungen auf, die mit theoretischen und praktischen Überlegungen vertieft werden. Die anschließenden Überlegungen zur Wahl sozialer Medienplattformen gehen in die Empfehlung über: Teste soziale Medien für die Erforschung der Region!

Социјалните медиуми се сеприсутни како извор за вести, забава и комуникација. Денес, социјалните медиуми станаа неизбежен дел и во науката. Додека првично се гледаат како платформа за распространување на резултати од истражувања, истовремено се нудат и како разновиден извор на податоци и интересен објект на истражување. Ова е посебно видливо во регионалните студии како истражувањето на Југоисточна Европа, каде социјалните медиуми овозможуваат нов поглед во светот на луѓето во овој регион. Во прилог, статијата ја прикажуваат можностите и предизвиците, кои се длабоко анализирани со теоретски и практични размислувања. Следното размислувањe на избор на социјалните медиуми преминува во препораката: Тестирај социјални медиуми за истражување на регионот!

Gründe…

Soziale Medien sind als Nachrichtenquelle, zur Unterhaltung oder als Kommunikationsmittel allgegenwärtig – auch in Südosteuropa. Sie sind aus dem Leben von Forscher:innen und erforschten Gruppen nicht mehr wegzudenken. Sie bestimmen die menschliche Lebenswirklichkeit und deren Wahrnehmung. Folglich stellen soziale Medien sowohl einen Forschungsgegenstand als auch Datenquellen in der Wissenschaft dar. Aufgrund ihrer Dynamik, die durch die stetige Contentproduktion bestimmt ist, ergeben sich neben Chancen auch Herausforderungen. Diese sind nur teilweise spezifisch für Südosteuropa und erfordern daher generell eine Reflexion der Herangehensweisen.

Abb. 1: Smartphones ermöglichen die flexible Produktion und den umgehenden Konsum von social Media Inhalten zu jederzeit und an jedem Ort. (https://pixabay.com/de/photos/menschen-sich-hinsetzen-smartphones-7286010/)

Chancen …

Die Vorteile der Nutzung von sozialen Medien scheinen auf der Hand zu liegen: In ihren Beiträgen bilden User:innen die für sie aktuell relevanten Themen ab. Daran können sich Debatten anschließen, die demokratisch ablaufen – sofern sie keiner Zensur durch Löschung der Kommentare unterzogen wird, da die Beteiligung auf Interessen basiert. Geschlecht, Alter, sozialer Status und andere demographische Faktoren sind dabei irrelevant. Die einzigen eher niedrigschwelligen Bedingungen liegen im Zugang zu Strom, internetfähigen Geräten und dem Internet selbst. Ausnahmen bilden politische motivierte Einschränkungen des Internetzugangs, die die Plattform NetBlocks listet.

Die relativ niedrigschwellige Beteiligung trifft sowohl auf Forschende als auch Erforschte gleichermaßen zu. Das kann Wissenschaftler:innen den Kontakt zu Akteur:innen im Feld erleichtern, wodurch sie zum Beispiel einfacher Hintergrundinformationen erheben können. Zudem suggeriert die Präsentation der Themen den Forschenden, dass Daten leicht zugänglich sind: Die User:innen teilen ihre Meinungen und Informationen bereitwillig mit der Öffentlichkeit, womit sie auch Forscher:innen zur Verfügung stehen.

Die in digitaler Form vorliegenden Daten können mithilfe von Webscraping-Tools aus den jeweiligen Plattformen extrahiert sowie in Analyseprogramme eingepflegt werden. Einige sind kostenfrei und erfordern auch kein Programmierfähigkeiten. Zum Beispiel auf YouTube können für Videos in der Regel automatische Untertitel erzeugt werden, die sich extrahieren lassen.

Umfragen ermöglichen interaktive Datenerhebung, wobei die Befragten zuvor über die Ziele aufgeklärt werden und bewusst ihre Zustimmung zur Verwertung der Daten geben müssen. Dadurch werden Akteur:innen gezielt einbezogen und ihre Repräsentativität erhöht. Diese Tools erleichtern die Datensicherung für textorientierte Analyseansätze. Zur Datenauswertung bieten sich neben Voyant, das für jegliche Texte eingesetzt werden kann, auch FireAnt oder AntConc an.

Ein weiterer Vorteil zeigt sich für Forschende, die keine Sprachkenntnisse auf dem Niveau einer Regionalsprache aufweisen, da soziale Medien häufig eine eingebaute Übersetzungsmöglichkeit aufweisen. Dies unterstützt Sprachanfänger:innen, und Fortgeschrittene, denen sich soziolinguistische Feinheiten nicht erschließen. Allerdings gilt dies nur eingeschränkt für südosteuropäische Sprachen, insbesondere für die weitverbreitete Nutzung von Dialekten, da Übersetzungsprogramme eher für internationale Standardsprachen wie Englisch, Deutsch oder Französisch (weiter)entwickelt werden. Was also zunächst als Chance erscheint, zeigt sich als Herausforderung.

… und Herausforderungen

Was so einfach wie überzeugend scheint, ist folglich wesentlich komplizierter. Denn die Erforschung sozialer Medien birgt auch ethische und technische Schwierigkeiten. Ethisch steht die Forschung vor Herausforderungen gesetzlicher Bestimmungen. In der Europäischen Union bestimmt die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), welche Daten wie und zu welchem Zweck verarbeitet werden dürfen.

Diese Verordnung unterscheidet zwischen personenbezogenen Daten (Art. 6) und besonderen Kategorien von personenbezogenen Daten (Art. 9). Personenbezogene Daten beziehen sich zum Beispiel auf die wirtschaftliche, kulturelle oder soziale Identität einer natürlichen Person. Dazu gehören Name, Alter, Adresse, Identifikationsnummer, Standortdaten oder Online-Kennungen wie eine IP-Adresse. Die Erhebung und Verarbeitung dieser Daten ist im Falle „berechtigter Interessen“ zulässig (Art. 6, Abs. 1f). Nach Art. 27 des deutschen Bundesdatenschutzgesetzes sind wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke berechtigte Interessen.

Die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten wie „rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen“ ist verboten (Art. 9, Abs. 1). Es gibt jedoch drei Möglichkeiten, jeglicher Art von personenbezogenen Daten rechtmäßig zu verarbeiten.

  1. Einwilligungserklärung (Art. 13), die jedoch das Feld beeinflusst und z.B. in Südosteuropa in schriftlicher Form zu Skepsis bei den Informant:innen führen kann, die in der sozialistischen Vergangenheit negative Erfahrungen mit der Geheimpolizei gemacht haben.
  2. Pseudonymisierung (Art. 5 Abs. 5)
  3. Unumkehrbare Anonymisierung, die nicht in der DSGVO erwähnt ist, da die Daten dadurch keinen Personenbezug mehr haben.

Zusätzlich zu den gesetzlich geregelten Herausforderungen muss die Forschung abwägen, welche Informationen die Nutzer:innen öffentlich und welche sie nur privat teilen wollen. Soziale Medien sollten zwar als private Seiten betrachtet werden, wenn sie die eine Registrierung erfordern, die eine Zugangsbeschränkung darstellt. Einem Urteil eines US-Gerichts zufolge, das die Datenschutzbestimmungen von Facebook untersucht hat, sind jedoch die Erwartungen von Einzelpersonen, dass die von ihnen geteilten Informationen durch die Privatsphäre geschützt sind, unberechtigt. Online-Foren dagegen, in denen religiöse Themen diskutiert werden, werden eher als privat angesehen, vor allem wenn User:innen mit Pseudonymen registriert sind. Die Verwendung von Klarnamen, die auch religiöse Titel enthalten können, oder von Pseudonymen kann daher als Zeichen für das Bewusstsein der Akteur:innen angesehen werden, Informationen in einem öffentlichen oder privaten Raum zu teilen.

Die ethischen Fragen beeinflussen die technische Seite der Datenerhebung direkt. Die Anonymisierung stellt aufgrund des wissenschaftlichen Prinzips der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit eine technische Herausforderung für die Datenerhebung dar. Screenshots von Beiträgen sind kaum so weit zu anonymisieren, dass sie eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit ermöglichen und gleichzeitig Datenschutz garantieren. Eine weniger technische Alternative der Datensammlung bietet die Beobachtung von öffentlich erreichbaren Accounts, wobei paraphrasierende Notizen gemacht werden, ohne direkt zu zitieren. Dieser Ansatz ist vergleichbar mit traditioneller Feldforschung. Dadurch können Nutzer:innenrechte geschützt und ein hoher Grad der Anonymisierung garantiert werden. Allerdings bedarf dieses Vorgehen einer bewussten Reflexion, da dabei die Datensammlung hochgradig subjektiv verläuft.

Darüber hinaus zeigt das Beispiel von Twitter, dass auch ökonomische Faktoren die Wissenschaftslandschaft herausfordern können. Bis zur Übernahme von Elon Musk galt Twitter als die am einfachsten zu erforschende Plattform. Zu den kostenlosen Tools, für die keine Programmierskills benötigt wurden, gehörte zum Beispiel die Google Sheet-Vorlage TAGS, welche der Einstellung entsprechend automatisch Ergebnisse von Twitter sammelte. Weitere niederschwellige Tools zur Erhebung waren NETVIZZ und Twitter Archiver. Allerdings haben sich die Nutzungsbedingungen von Twitter (mittlerweile X) für Wissenschaftler:innen verschlechtert. Unter anderem wurden die freien Programmierschnittschtellen abgeschaltet, wodurch viele Apps nicht mehr funktionieren.

Abb. 2: Facebook ist laut DataReportal immer noch das mit Abstand am meisten verwendete soziale Medium. (https://datareportal.com/reports/digital-2023-north-macedonia)

Die richtige Wahl der sozialen Medien für die Südosteuropa-Forschung 

Obgleich die Untersuchung sozialer Medien allein aufgrund der Aktualität nahezuliegen scheint, gibt es bisher verhältnismäßig wenig Forschungsbeiträge aus oder in Bezug auf Südosteuropa. Welche Plattformen für die eigene Forschung auszuwählen sind, ist nicht pauschal zu beantworten. Auswahlkriterien können die persönliche Vertrautheit mit den Kanälen und den Erhebungstools sein.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, welche sozialen Medien die zu erforschenden Akteur:innen verwenden. Statistiken zeigen beispielsweise, dass jüngere Generationen eher Instagram und TikTok verwenden. Auch regional unterscheidet sich die Nutzung. Eine Umfrage des Balkan Investigative Research Network zeigte für Südosteuropa, dass in dieser Region Facebook die am meisten verwendete Plattform ist. Die Plattform DataReportal veröffentlicht jährlich länderspezifische Statistiken zur Nutzung sozialer Medien.

Fazit

Die Erforschung Südosteuropas mittels Sozialer Medien lohnt sich aus verschiedenen Gründen trotz einiger Herausforderungen. Die Möglichkeit demokratischer Beteiligung in Sozialen Medien kann bisherige Monopole der Diskursgestaltung durch Massenmedien aufbrechen. Dies ermöglicht zudem die Erschließung neuer Forschungsaspekte, die Vertiefung von Medienkompetenzen sowie die Aneignung neuen technischen Fähigkeiten. Einen Versuch ist es wert, soziale Medien zu untersuchen.

Weiterführende Literatur:

Jeremic, Ivana & Stojanovic, Milica 2021.Facebook, Twitter Struggling in Fight against Balkan Content Violations. BalkanInsight, 16.02.2021, https://balkaninsight.com/2021/02/16/facebook-twitter-struggling-in-fight-against-balkan-content-violations/ [Letzter Zugriff 09.08.2022].

Kozinets, Robert 2020. Netnography. The Essential Guide to Qualitative Social Media Research. 3 ed. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC, Melbourne: SAGE.

Moreno, Megan A., Goniu, Natalie, Moreno, Peter S. and Diekem, Douglas 2013. Ethics of Social Media Research: Common Concerns and Practical Considerations. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking 16, 708-713.

Neumaier, Anna. 2016. “Because Faith is a Personal Matter!” Aspects of Public and Private in Religious Internet Use. Journal of Religion in Europe, 9, 441-462.

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