Straßenschlachten mit Aerosol

Ein Abriss des politischen Diskurses auf den Fassaden Belgrads.

Von Michael Schütz, Geschichte/Englisch/Deutsch als Fremdsprache Gymnasiallehramt

Bildquelle: Michael Schütz

Die Stadt Belgrad ist bunt. Es liegt der Geruch von Farbe in der Luft und selbst dem ungeschulten Auge wird schnell deutlich, dass es kaum eine Hauswand gibt, die in ihrem Originalzustand belassen wurde. Dabei wird, mal mit mehr, mal mit weniger großem künstlerischem Aufwand das Stadtbild stetig durch unzählige Schriftzüge, Porträts und Parolen verändert. Besonders auffallend ist hierbei, dass v.a. im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten Graffiti in Form von professioneller Streetart eine eher untergeordnete Rolle spielt.

У овом тексту аутор покушава да осветли употребу графита као медија за ширења политичке агенде на зидовима стамбених објеката у Београду. Прво су представљена два примера из сфере интернационалне политике, посебно блиског односа између Србије и Русије. Након тога аутор покушава да дâ одговор на питање како и у ком облику се на градским фасадама води дијалог о Ратку Младићу и наслеђу југословенских ратова. У том контексту се такође на основу изабраних примера представљају различити модели артикулације као и (анти) стратегије супротстављених политичких оријентација. Закључак аутора је да се приказани развој премештања политичког дискурса на градске зидове може објаснити недостатком јавног и институционалног простора за конструктивну размену у Србији под влашћу Алесандра Вучића.

Während es den serbischen Straßenkünstlern zunächst hauptsächlich darum ging, das triste Stadtbild einer post-sozialistischen Metropole zu verschönern und man sich bewusst abseits des durch das Milošević-Regime korrumpierten Feldes der Politik bewegte, ist insbesondere innerhalb der letzten Jahre eine gegensätzliche Tendenz zu beobachten. So werden Graffitis in Serbien und insbesondere in Belgrad als Medium für den national,- und globalpolitischen Diskurs genutzt. Wenig überraschend für Kenner der Geschichte des Balkans ist dabei, dass die beiden am häufigsten vertretenen Fraktionen beim Austausch auf der Hauswand das nationalistische und das anti-nationalistische Lager sind. Obwohl Gegenstand des vorliegenden Textes der Umgang mit Abbildungen des verurteilten bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladićs ist, bleibt es unabdingbar, zunächst auf unterschiedliche Artikulationsschemata in Form von Graffiti einzugehen, die (anti-) nationalistische Ideologien transportieren und das Belgrader Stadtbild prägen.

Die enge Verbundenheit Serbiens mit der sich selbst als Schutzmacht verstehenden Russischen Föderation findet sich an zahlreichen Hausfassaden wieder. Wie obige Abbildung verdeutlicht, lässt sich politisches Graffiti dieser Form als Kaleidoskop der serbischen Gesellschaft verstehen. Zweifellos bestand die Intention des ursprünglichen Künstlers darin, die Verflechtung Russlands mit Serbien auf eine Art darzustellen, bei welcher die gemeinsame Orthodoxie als Bindeglied fungiert. Dass weitere Personen ihre Antipathie gegenüber dieser Idee zum Ausdruck brachten, lässt sich anhand mehrerer crossings deutlich belegen. So wurden das orthodoxe Kreuz, sowie der Stern in der Flagge Serbiens von 1947-1992 nachträglich übermalt. Zusätzlich wurde die russische Flagge erst mit anarchistischer Symbolik, anschließend mit Bezug auf den Krieg in der Ukraine mit einem Z übersprüht. Exemplarisch bei diesem Werk ist somit die große Bandbreite und Beteiligung unterschiedlicher politischer Spektren. 

Um die Verbundenheit Serbiens mit Russland bzw. die Ablehnung eben jener geht es auch in der folgenden Abbildung. Erneut zieren den Hintergrund die ineinander verschmelzenden Nationalflaggen beider Staaten. Zentrales Bindeglied hierbei scheint diesmal nicht die Orthodoxie, sondern die Figur Wladimir Putins zu sein. Die Ablehnung der vom ursprünglichen Künstler propagierten Meinung durch Andere wird durch das Übersprühen des Portraits kreativ ausgedrückt. So erhält der Präsident der Russischen Föderation nachträglich eine Sonnenbrille und Tränen aus Blut, sowie ein Z über das Gesicht. Des Weiteren bedienten sich Kritiker des Originals raffiniert der Gewalt der Sprache: Mit dem crossing eines einzelnen Buchstabens verändert sich die Bedeutung des Gesamtwerks drastisch. Aus Брат (Bruder) wurde рат (Krieg).

Bildquelle: Michael Schütz
Bildquellen: o.L.: Michael Schütz. o.L.: Zarka Radoja (Radio Free Europe/Radio Liberty). u.L.: Zarka Radoja (Radio Free Europe/Radio Liberty). u.R: Dragan Kostić (Radio Free Europe/Radio Liberty).

Der Dialog mit Farben und Aerosol auf den Hauswänden Belgrads thematisiert nicht nur außenpolitische Prozesse. Wer darüber schockiert sein mag, in einer Hauptstadt mitten in Europa mit Wladimir Putin einem Kriegsverbrecher an der Fassade eines Hauses zu begegnen, wird Augen machen:  Überall in der Stadt findet man, ohne dass dabei eine klare Zuordnung zu Stadtteilen oder Straßenzügen möglich wäre, Graffitis mit dem Gesicht von Ratko Mladić. Mladić, von 1992 bis 1996 Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska, wurde 2017 vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt, unter anderem für seine Beteiligung am Völkermord von Bosniaken und insbesondere seine Rolle beim Massaker von Srebrenica. Folgende Abbildungen des wohl bekanntesten und größten Werks sollen dabei als Einleitung zur Darstellung der Dynamik im Umgang mit Mladić-Graffitis fungieren.

“General, deiner Mutter sei Dank” – der Text neben einem salutierenden Kriegsverbrecher. Das muss man erst einmal auf sich wirken lassen. Dargestellt mit ikonischer Kappe und in militärischer Uniform, blickt Mladić in die Ferne. Das ursprünglich in schwarz-weiß gehaltene Bild verweist in Stil und Symbolik auf Künstler, welche FK Partizan Belgrad, einem der beiden rivalisierenden Sportvereine der Stadt, nahestehen. Dieselbe Nähe wird in Abbildung Nr. 4 der Reihe deutlich: Hooligans des Vereins säubern nach einem der zahlreichen „Anschläge“ auf ihren Helden die Wand von fremder Farbe, um Mladić in „altem Ruhm erstrahlen zu lassen“. 

Bildquelle: Michael Schütz

Dass dieser Umstand auf eine tiefgreifende Spaltung innerhalb der serbischen Gesellschaft und auf ein ambivalentes Verhältnis zur Vergangenheit der jugoslawischen Zerfallskriege und der darin in serbischem Namen verübten Verbrechen hinweist, verdeutlichen auch die nachfolgenden Werke, wobei hier die “Sicherheit des Generals” nicht immer gewährleistet werden kann: 

Im Gegensatz zur aufwändig gestalteten, oben dargestellten Wandmalerei mit exponierter Position werden kleinere Abbildungen Mladićs in der Regel nicht gereinigt, um sie in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Bei der oben gezeigten Abbildung handelt es sich um sog. Stencils, mithilfe von Schablonen angebrachte Graffitis. Die Vorteile dieser Technik sind Wiederholbarkeit und geringer Zeitaufwand für das Sprühen. Wenig verwunderlich ist daher, dass gerade diese Form beinahe überall in Belgrad zu sehen ist.

Bildquelle: Michael Schütz

Für die Unterschrift XEPOJ! (Held!) muss so beispielsweise mehr Zeit eingeplant werden als für das eigentliche Portrait. Dass nicht alle mit der Betitelung eines Helden für einen Kriegsverbrecher einverstanden sind, zeigt das Crossing ZLOČINAC (Verbrecher). Erneut findet sich das Z nachträglich über das Gesicht gesprüht, die Parallele zwischen dem Krieg in der Ukraine und den Kriegen in Jugoslawien ist dabei unübersehbar. Bemerkenswert ist zudem folgender Umstand: Nicht nur die Anhänger Mladićs benutzen zur Verbreitung ihres Gedankenguts stencils. Auch die Gegenseite bedient sich bei ihren Antworten dieses effizienten Hilfsmittels: 

Resümierend bleibt bei der Beschäftigung mit politischen Graffitis in den Straßen Belgrads folgendes festzuhalten: Es ist wenig verwunderlich, dass in der Hauptstadt Serbiens politische, gesellschaftliche und soziale Diskurse zahlreich an den Fassaden der Stadt geführt werden. In einem Serbien unter der Regierung Vučićs, welches sich in den letzten Jahren in die Richtung einer autokratischen Stabilokratie entwickelt, fehlt es an öffentlichen und institutionellen Bühnen für konstruktiven Meinungsaustausch, für Streit und auch für Protest. Eine Verlagerung der Dialoge, die die serbische Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit betreffen, ist die Folge. Der Diskurs geschieht gezwungenermaßen kaum in öffentlichen, stattdessen aber immer mehr in den sozialen Medien und nicht zuletzt in Form von Bild und Schrift auf den Hausfassaden serbischer Städte.

  1. Copyright (c)2022 RFE/RL, Inc. Used with the permission of Radio Free Europe/Radio Liberty, 1201 Connecticut Ave NW, Ste 400, Washington DC 20036.

Weiterführende Literatur:

Bogdanovic, Nevena/ Urosevic, Predrag/ Heil, Andy: Graffiti War: Battle In The Streets Over Ratko Mladic Mural. https://www.rferl.org/a/serbia-mladic-mural-protests/31555357.html, retrieved 7 October 2022.

Dragićević Šešić, Milena: Umetnost i kultura otpora. Beograd, 2018. 

Velikonja, Mitja: Post-Socialist Political Graffiti in the Balkans and Central Europe. Routledge 2020.

GDPR Cookie Consent with Real Cookie Banner