Wenn man sich mit dem Begriff des „Hässlichen“ auseinandersetzt, bietet es sich an, zunächst das Konzept des „Schönen“ und die Ästhetik zu betrachten. Immanuel Kant, einer der Urväter der deutschen Philosophie und Aufklärung, liefert in seiner „Kritik der Urteilskraft“ einen entscheidenden Beitrag dazu. Kant definiert „Schönheit“ als unzweckmäßige subjektive Wahrnehmung, die von Person zu Person variiert.
Hier strebte Kant danach, die Dualität zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu überwinden, indem er die ästhetische und teleologische Urteilskraft miteinander verband. Die ästhetische Urteilskraft, die sich auf das Schöne und Erhabene richtet, basierte auf subjektiver Zweckmäßigkeit und hatte einen kultivierenden Einfluss auf den Menschen. Das Erhabene löste ähnlich wie das Schöne unmittelbares Wohlgefallen aus und hatte eine erzieherische Wirkung auf die menschliche Natur. Die Verbindung zwischen ästhetischem und teleologischem Urteil betonte die Fähigkeit des Menschen, subjektive und objektive Zweckmäßigkeit in der Natur zu erkennen. Kants Vorstellung eines Endzwecks, der durch das moralische Gesetz und die harmonische Natur erreicht wird, bildete die Grundlage für seine Idee der letztendlichen Bestimmung des Menschen als freies Wesen.
Daran anknüpfend beschreibt Karl Rosenkranz in seiner Ästhetik des Hässlichen das „Hässliche“ als immanenten Gegenpol des „Schönen“, der dazu dient, die eigenen Vorstellungen von Ästhetik samt den eigenen Urteilen und Präferenzen zu hinterfragen. Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen bietet eine tiefgreifende Betrachtung des Phänomens, das in unsicheren Zeiten eine Verteidigung alter Werte darstellt. Das Hässliche wird als existenzielle Bedrohung dargestellt, die durch die Aufhebung im Schönen oder die Wendung zur Karikatur überwunden werden kann. Rosenkranz betont die Abhängigkeit des Hässlichen von der Schönheit und sieht es als Kontrast dazu. Er fordert dazu auf, das Hässliche im Kontext seiner Beziehung zum Schönen zu betrachten und hebt Form und Korrektheit als Voraussetzungen für das Schöne hervor.
Parallelen zu seinen Überlegungen zu Formlosigkeit und Inkorrektheit als Merkmale des Hässlichen finden sich in seiner Auseinandersetzung mit Natur-Hässlichem, Geistes-Hässlichem und Kunst-Hässlichem. Rosenkranz unterstreicht die ethische Dimension des Hässlichen, indem er auf das Gemeine und das Widrige fokussiert. Seine Betrachtungen über Kleinlichkeit, Schwäche, Niedrigkeit, Plumpheit, Tod und Scheußlichkeit zeigen, dass Schönheit nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch und geistig ist.
Rosenkranz führt seine Untersuchungen zur höchsten Form des Hässlichen, der Karikatur. In ihr findet er die ultimative Überwindung des Hässlichen durch Gegensätze, Übertreibungen und Missverhältnisse. Dies harmoniert mit der Idee, dass das Hässliche oft durch Humor und Ironie aufgelöst wird. Die Wahrnehmung des Hässlichen muss als subjektiv und von kulturellen Konventionen geprägt betrachtet werden. Schönheit und Hässlichkeit sind nicht absolute Konzepte, sondern variieren in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten. Es bleibt eine fortwährende Aufgabe, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und die Vielfalt ästhetischer Ausdrucksformen zu schätzen.
Maria Todorova, eine in den USA lehrende bulgarische Historikerin, untersucht in ihrem Buch “Die Erfindung des Balkans” die westliche Wahrnehmung des Balkans. Der Begriff “Balkan” selbst, der den antiken Namen “Haemus” für das Bergmassiv im heutigen Bulgarien ersetzte, begann im 19. Jahrhundert fälschlicherweise den Lebensraum der europäischen Völker im Osmanischen Reich zu charakterisieren.
Von Anfang an trug der Begriff “Balkan” soziale und kulturelle Bedeutungen, geprägt weniger von Wissenschaftlern als von Journalisten und Touristen. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden vielfältige Wahrnehmungen, beeinflusst von der nationalen Herkunft der Reisenden im sich zersetzenden Osmanischen Reich. Trotz unterschiedlicher Standpunkte herrschte die gemeinsame Vorstellung vom Balkan als halbbarbarisch vor, die sich bis zum frühen 20. Jahrhundert zu einem Bild des Balkans als Hort des Terrorismus verfestigte, exemplarisch durch die Affäre Miss Stone.
Die Schüsse von Gavrilo Princip in Sarajevo, die den Ersten Weltkrieg auslösten, stempelten die Balkanvölker als erbsündig ab und tilgten Ambivalenzen. Westliche Frustration über die ethnische Komplexität und die Zuschreibung nationalistischer Exzesse intensivierten sich. Todorova bezeichnet diese Stereotypen unter Anlehnung an Edward Saids “Orientalismus” als “Balkanismus”.
Über die Kritik am Westen hinaus zeigt Todorova, wie die Balkanstaaten selbst den Begriff “Balkan” übernehmen. Sie stellt die tatsächliche Existenz des Balkans infrage und enthüllt verinnerlichte Vorurteile in den Balkanstaaten. Trotz der Nachahmung des westlichen Strebens nach ethnisch homogenen Nationalstaaten folgten Konflikte und Bevölkerungsverschiebungen. Die erfolglose Nachahmung des Westens durch die Balkanstaaten ermöglichte dem Westen, den Balkan als sein “unvollkommenes Anderes” zu betrachten. Todorova betrachtet diese Perspektive als besorgniserregend und weist auf die anhaltende Neigung des Westens hin, den Balkan durch die Brille von “Übergang, Komplexität, Mischung und Mehrdeutigkeit” zu sehen. Ihre Arbeit dient nicht nur dem Verständnis der Balkan-Situation, sondern stellt auch die zivilisierte Haltung des Westens infrage und fordert eine Neubewertung von Vorurteilen sowie eine bessere Toleranz gegenüber Ambivalenzen. Die Auseinandersetzung mit dem Balkanismus im Westen ist angesichts Europas bequemer Vorurteile für zukünftige Engagements auf dem Balkan dringend erforderlich.
Das Hässliche zwischen Realität und Fiktion
Ein weiterer interessanter Aspekt, der zur Vertiefung der Überlegungen über das “Hässliche” beitragen könnte, findet sich in einem fiktiven Reiseführer über den Balkan wie “Molwanien” von Santo Cilauro, Tom Gleisner und Rob Sitch. Dieser satirische Reiseführer durch Südosteuropa nimmt auf humorvolle Weise den Begriff der Hässlichkeit aufs Korn und betont, dass Schönheit und Ästhetik stark von kulturellen Konventionen und Normen beeinflusst sind. Durch solche ironischen Darstellungen wird nicht nur der Humor als kritisches Werkzeug genutzt, sondern auch eine Aufforderung ausgesprochen, die konventionellen Vorstellungen von Attraktivität in Reiseführern zu hinterfragen.
In der satirischen Welt von “Molwanien” wird bewusst mit dem Kontrast zwischen der üblichen Schönheits-Ästhetik und dem ironischen Spiel mit dem Hässlichen gespielt. Dies verdeutlicht, dass unsere Wahrnehmung von Schönheit stark von kulturellen Prägungen und individuellen Perspektiven geformt wird. Die ironische Auseinandersetzung mit dem Hässlichen kann somit als eine Art Katalysator dienen, um die eigenen Vorurteile und festgefahrenen Konzeptionen von Attraktivität zu hinterfragen.
Ein Appell an die eigene Wahrnehmung
Zusammenfassend bleibt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, sich den Spiegel seiner eigenen Wahrnehmung des “Hässlichen” vorzuhalten, um sein wahres Gesicht gegenüber der Welt zu entlarven. Die philosophischen Konzepte von Kant und Rosenkranz, sowie die Analysen von Todorova, bieten dabei eine solide Grundlage, um solche Selbstreflexionen zu vertiefen und die Vielschichtigkeit von Ästhetik und Wahrnehmung besser zu verstehen. Indem wir uns bewusst werden, wie stark kulturelle Einflüsse und individuelle Perspektiven unsere Ästhetik prägen, können wir dazu beitragen, ein breiteres Verständnis für die Vielfalt ästhetischer Ausdrucksformen zu entwickeln.
Weiterführende Literatur:
Cilauro, Santo / Gleisner, Tom / Sitch, Rob: Molwanien. Das Land des weiterhin schadhaften Lächelns. 10 Jahre Molwanien – Jubiläumsausgabe. München: Heyne 2013.
Ernst, Andreas: Echoraum, nicht Pulverfass. In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 29.09.2017, <https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/256917/echoraum-nicht-pulverfass/> (Abgerufen: 27.03.2023)
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Hässlichen. Stuttgart: Reclam 2007.