Geschichte der Schrift in Serbien
Für ein Verständnis dieser willkürlich anmutenden Wahl verschiedener Schriftsysteme scheint ein kurzer Blick in das vergangene Jahrhundert unausweichlich.
Im Ersten Weltkrieg verboten die österreich-ungarischen Besatzer Serben die Benutzung der kyrillischen Schrift, im Zweiten Weltkrieg wurde das Kyrillische im kroatischen Ustascha-Staat unterdrückt. Dazwischen fand eine erste größere Verbreitung des lateinischen Alphabets in Serbien dadurch statt, dass im Königreich Jugoslawien sowohl die kyrillische als auch die lateinische Schrift als offizielle Schriftformen deklariert wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgte der Bund der Kommunisten unter Tito das Ziel, die Bürger Jugoslawiens „biskriptal“ werden zu lassen. Von diesen Maßnahmen versprach sich das Regime „schriftbedingten“ Nationalismus langfristig eindämmen zu können. Zwar war ein Großteil der jugoslawischen Bevölkerung dadurch bestens vertraut mit beiden Schriftsystemen, doch blickt man auf die Ereignisse ab den 1990ern, wird deutlich, dass die ambitionierten Ziele dieser Maßnahmen verfehlt wurden. Die meisten Jugoslawen waren sich weiterhin sehr wohl bewusst, welche Schrift „zu ihnen“ gehört und welche zu „den Anderen“. Aus diesem Grund wurden während des Bosnienkriegs Schilder in der „Schrift der Feinde“ übermalt oder zerstört.
Seitdem die serbische Verfassung aus dem Jahr 2006 in Kraft getreten ist, wird für sämtliche Kommunikation öffentlicher Institutionen die kyrillische Schrift vorgesehen. Außerdem verpflichtet ein Gesetz zum „Schutz und Erhalt“ des Kyrillischen seit dem Jahr 2021 neben Serbiens zahlreichen Staatsunternehmen auch Kulturschaffende, die Geld vom Staat bekommen, in Kyrillisch zu schreiben, bei Verstößen drohen hohe Geldstrafen. Zwar gilt das Gesetz für private Unternehmen bislang nicht, doch geht das Gerücht um, bei einem Verzicht auf das lateinische Alphabet würden die Unternehmen steuerlich begünstigt (Hassel, Florian: Gute Schrift, Schlechte Schrift. Die Serben sollen das kyrillische Alphabet mehr Nutzen – Teil einer nationalistischen Kampagne der Regierung. In: Süddeutsche Zeitung, 15.09.2021. Online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/serbien-gute-schrift-schlechte-schrift-1.5411543).
Kontroversen über den Gebrauch der Schriften: Kyrillisch zwischen Kulturgut und Nationalismus
So herrscht in der serbischen Gesellschaft und unter serbischen Linguisten eine Kontroverse über die parallele Verwendung des kyrillischen und lateinischen Alphabets und darüber, welches der beiden bevorzugt werden sollte. Während konservative bzw. national(istisch) zugeordnete Kreise auf die Verwendung der kyrillischen Schrift schwören, bevorzugen pragmatischere, „prowestlich“ eingeordnete Stimmen den aktuell vorherrschenden Bigraphismus bzw. die lateinische Schrift. Dies deckt sich mit meiner Beobachtung in Belgrad, dass nationalistische Botschaften auf Plakaten und Hauswänden stets in kyrillischer Schrift gehalten sind (vgl. Abbidlung 2).
So willkürlich die Wahl der Schriften auf den ersten Blick erscheinen mag, sind hier doch klare Tendenzen aufzeigbar. Schrift ist schließlich mehr als das Festhalten von Sprache, sie verkörpert auch indexikalische Bedeutung (kausaler Zusammenhang zwischen Zeichen und Objekt) und ruft so verschiedenste Assoziationen hervor. Unter Belgrader Studierenden wurden im Jahre 2004 Assoziationen mit den jeweiligen Alphabeten untersucht. Während das kyrillische Alphabet mit traditionellen Werten und der serbischen Kultur assoziiert wurde, wurden mit dem lateinischen Alphabet vermeintliche Antonyme verbunden, nämlich Modernität und westliche Kultur. So erscheint auch völlig logisch, dass ein Großteil der Werbung in Belgrad in lateinischen Lettern geschrieben ist, schließlich sollen die Produkte der Unternehmen größtmögliche Modernität ausstrahlen. Gleichzeitig wird so die westliche Konsumkultur über das Zeichensystem selbst als westlich markiert.
Daran anschließend lässt sich in Serbien auch je nach Textsorte und ihrem Funktionsbezug die Benutzung eines bevorzugten Alphabets beobachten. So wird Kyrillisch eher in konservativen Zeitungen wie der „Недељне информативне новине“ verwendet, Lateinisch eher in liberalen Zeitungen wie der „Vreme“. Abgesehen davon ist die Serbisch-orthodoxe Kirche untrennbar mit dem kyrillischen Alphabet verbunden. Während orthodoxe Gebetsbücher in kyrillischer Schrift geschrieben sind, sind katholische oder muslimische eher in lateinischen Buchstaben gedruckt.
Der Bigraphismus symbolisiert bestens die hybride Identifikation Serbiens entlang der politischen Linie: „Wir sind die, die zu zwei Welten gehören, der kyrillischen und der lateinischen, dem Westen und dem Osten“ (Bunčić, Daniel: Serbo-Croatian/Serbian. Cyrillic and Latin. In: Bunčić, Daniel. Lippert, Sandra. Rabus, Achim: Biscriptality. A sociolinguistic typology. Heidelberg 2016, 231-246, hier 241). Mit diesem ambivalenten Kurs der serbischen Regierung sind viele Serben nicht einverstanden und so wird auch die symbolkräftige Schrift zum Streitpunkt. Gruppierungen wie die „Удружење за заштиту ћирилице српског језика »Ћирилица«“ („Organisation für den Schutz der kyrillischen Schrift der serbischen Sprache »Ćirilica«“) fordern eine „Cyrillic-only-policy“ für Serbien. Bestrebungen von Organisationen wie dieser folgen i.d.R. einer nationalistischen Agenda, wobei meist mit einem Sprachverfall als Ausdruck des Niedergangs des Serbentums argumentiert wird – Andersdenkende werden häufig öffentlich denunziert.
Ebensolche Andersdenkenden bemängeln die große Popularität eines ihrer Ansicht nach von Pseudowissenschaftlichkeit und Retrolinguistik geprägten Diskurs. Weitere Sprachwissenschaftler, darunter Tanja Milosavlejević und Jakub Pogorzelski, kamen zu dem Schluss, dass die eifrigsten Verteidiger des kyrillischen Alphabets Teil ultra-rechter Formierungen seien.
Deutlich lässt sich beobachten, dass der Diskurs über die Schriftfrage sehr oft die rationale Ebene verlässt und stattdessen in gegenseitige Diffamierungen mündet.
Als Außenstehender ist es schwer zu beurteilen, wie sich die bigraphische Situation in Serbien im Detail darstellt und wie sie von der serbischen Bevölkerung wahrgenommen wird. So tönen reißerische Überschriften in serbischen Boulevardmedien vom Verfall des kyrillischen Alphabets: „Ćirilice pet puta manje od latinice“ („Kyrillisch fünf mal weniger als Lateinisch“, Dragović 2019). Wie diese Zahlen zustande gekommen sind oder auf was diese sich genau beziehen, kann man jedoch nur erahnen. Ob man solchen Artikeln großen Wert beimessen sollte, ist also fraglich. Auch die geringe Anzahl (unabhängiger) wissenschaftlicher Literatur zur Thematik erschwert die Einschätzung der Situation.
All diese Melodramatik, die v.a. von politischer Seite aus in das Feld der Schrift hineingetragen wird, wirkt auf mich eher wie politisches Kalkül und als Mittel zur Auslebung eines retrograden Nationalismus. Anstatt diesen stabilen und weltweit fast einzigartigen Bigraphismus pragmatisch anzunehmen und damit u.a. Barrieren zu den anderen post-jugoslawischen Staaten, westlichen Ländern oder auch innerhalb des eigenen Landes abzubauen, wird die Schriftfrage im Kontext nationalistischer Propaganda durch entsprechende Äußerungen und Gesetzgebungen zweckdienlich aufbereitet und damit mehr Mauern aufgebaut als eingerissen. Zwar wissen viele Stimmen in Serbien die Lage rund um das Kyrillische zu dramatisieren, doch ist es schließlich nicht immer der am lautesten krähende Hahn, der im Recht ist.
Nun scheint es mir auch in einem bigraphischen Land reichlich unrealistisch, dass die offizielle Amtsschrift, ohne deren Beherrschung ein Kind die Grundschule nicht beenden kann, zeitnah aussterben könnte. Auch im öffentlichen Leben ist ihre Präsenz noch viel zu groß, als dass ihre Existenz unmittelbar bedroht wäre. Wie bereits thematisiert, ist die kyrillische Schrift für viele Serben außerdem untrennbar mit der eigenen Nationalidentität verbunden. Eins sei also sicher: Solange dieses Bewusstsein für die Verflechtung der kyrillischen Schrift mit der eigenen Identität vorhanden bleibt, wird auch die kyrillische Schrift in Serbien unmöglich aussterben können.
Weiterführende Literatur:
Bunčić, Daniel (1): Serbo-Croatian as a scriptally pluricentric language. In: Bunčić Daniel, Lippert Sandra, Rabus Achim: Biscriptality. A sociolinguistic typology. Heidelberg 2016, 167-180.
Bunčić, Daniel (2): Serbo-Croatian/Serbian. Cyrillic and Latin. In: Bunčić, Daniel. Lippert, Sandra. Rabus, Achim: Biscriptality. A sociolinguistic typology. Heidelberg 2016, 231-246.
Dragović, Rade: Ćirilice pet puta manje od latinice. In: Novosti, 13.09.2019. Online verfügbar unter https://www.novosti.rs/vesti/naslovna/drustvo/aktuelno.290.html:817996-Cirilice-pet-puta-manje-od-latinice
Pejović, Petar: Kyrillisches und lateinisches Alphabet in serbischsprachigen Linguistic Landscapes. In: Bunčić Daniel, Schulte Jörg (Hgg.): Opera Slavistica Coloni Köln 2019.
Živanović, Maja: Serbia to ‘Fight to Save’ Cyrillic Alphabet. In: BalkanInsight, 05.06.2017. Online verfügbar unter https://balkaninsight.com/2017/06/05/serbia-defending-cyrillic-alphabet-media-06-05-2017/