Der Westen und der Balkan. Eine Entflechtung.

Jacqueline Nießer, SeeFField outgoing fellow 2023

©Jacqueline Nießer: Straßen in der Umgebung Sarajevos

Am Beispiel der Sendung „Westbalkan“ des Europamagazins der ARD wird veranschaulicht, was es bedeutet, eine Dekolonialisierung der Südosteuropastudien zu betreiben. Dabei geht es weniger darum zu klären, ob Südosteuropa ein koloniales Erbe zu verarbeiten hat, sondern um eine Aufschlüsselung von Vorannahmen und Herangehensweisen bei der Wissensproduktion über eine Region. Anhand der Bilder und der sprachlichen Formulierungen in der Sendung lässt sich zeigen, wie „der Balkan“ selten als neutraler, geographischer Begriff taugt, sondern stets bedeutungsschwanger daherkommt. Und dass der Balkan Europa ist, nur eben das andere Europa.

Na primjeru emisije ``Westbalkan`` u okviru Evropskog magazina na prvom programu njemačke televizije ARD pokušaćemo ilustrovati šta znači dekolonizaca Studija o jugoistočnoj Evropi. Pri tome se ne radi toliko o razjašnjenju da li jugoistočna Evropa ima kolonijalno nasljeđe, da li i kako je ono predstavljeno u emisiji, već o preispitivanju predrasuda i pristupa u proizvodnji znanja o regiji. Slike i jezičke formulacije u programu pokazuju kako je “Balkan” rijetko prikladan kao neutralan, geografski pojam, već uvijek ima metaforičko značenje. I da je Balkan Evropa, samo druga Evropa.

Ein Schrottauto fährt los auf einer holprigen Straße in den Bergen und gleich läuft dem Fahrer auch noch ein Esel entgegen. Dazu Musik von Blechbläsern und feurige Rhythmen. „Holprige Straßen, beeindruckende Natur. Erster Eindruck vom Westbalkan. Eine Region im Südosten Europas über die wir wenig wissen, außer dass hier in der Gegend mal Jugoslawien war. Wir machen uns auf die Reise, um mehr zu erfahren: Über die Menschen, ihre Konflikte und nicht zuletzt fantastisches Essen jenseits von Ćevapčići.“

So begann im April 2023 eine rund dreißigminütige Sendung im „Europamagazin“ der ARD über den sogenannten „Westbalkan“. Der Leiter des ARD-Studios Brüssel, Markus Preiß, reiste dafür durch Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Serbien, Albanien und schließlich Nordmazedonien.

Bevor Preiß mit den Menschen vor Ort sprach, befragte er Nikolaus Neumaier, den ARD-Korrespondenten in Wien für Österreich, Ungarn und die Balkanstaaten. Preiß: „Jetzt gibt’s hier auf ner Fläche mit ner Einwohnerzahl wie den Niederlanden so viele Länder. Und jeder sagt, nein, wir können nicht zusammen sein wie früher, wir wollen eigenständig sein. Und wir haben eine ganz starke Identität. Warum ist das hier in dieser Gegend so stark ausgeprägt?“

Neumaier: „Es ist sehr viel von Nationalismen geprägt, von Religionen. Also du wirst in eine Region zugeteilt, wenn dein Name orthodox klingt, wenn er muslimisch klingt. Wenn er kroatisch klingt, dann bist du Katholik. Das ist ein Dilemma, das man ganz speziell in Bosnien-Herzegowina spürt. Und diese Streitereien auch um – wer ist eigentlich der Wichtigste im Land, wer ist der Wichtigste auf diesem kleinen Spielplatz Balkan, führt dazu, dass man sich absurde Streitereien liefert.“

Preiß: „Wenn alle so gern eigenständig sind und ihre eigene Identität so gut kennen, was wollen die dann in der EU?“

Neumaier: „Geld. (Kurzes Lachen). Die wirtschaftliche Perspektive ist für viele junge Menschen eine Katastrophe, deswegen wollen die eigentlich raus und sie sehen, denke ich, in der EU einfach die Maschine, die auch dazu führt, dass man hier mehr Wohlstand auch generieren kann, dass sich hier große Firmen ansiedeln.“

Preiß: „Was würde die EU gewinnen, wenn die Länder, die es hier gibt in der Region, Mitglied in der EU wären?“

Neumaier: „Ich glaube, der größte Gewinn ist Ruhe auf dem Balkan. Also das Pulverfass, oder die Pulverfässer, die es hier wirklich gibt, die würden schon etwas entschärft. Das zweite, was man auch hier auf dieser Fahrt sehen kann, es sind auch fantastische Urlaubsländer. Da fährt nur niemand hin, wenn es hier so unruhig ist.“

In den Teilen des ARD-Europamagazins „Westbalkan“, in denen es weniger um Identitäten und Geschichte, sondern um Kultur wie das Sarajevoer Filmfestival, um nachhaltigen Tourismus am Shkodra-See in der boomenden Touristendestination Albanien, um montenegrinischen Pršut (Schinken) und mazedonischen Wein geht, finden sich weniger Paternalismus, Arroganz, Fehler und Balkanismen. Sogar Frauen kommen zu Wort, wenn auch keinesfalls im gleichen Maße wie Männer. Und Interviewte wie Mirsad Purivatra, der Begründer des Sarajevoer Film Festivals, sehen entgegen Neumaiers Auskunft zuvor in der Europäischen Union tatsächlich auch Werte wie Demokratie und Rechtstaatlichkeit, die er sich so sehr für sein Heimatland wünscht. Der Beitrag endet auch nicht mit einem Bauern und selbstgebrannten Rakija, sondern mit einem sehr gepflegten Sommelier aus Nordmazedonien, der reflektiert, was ein EU-Beitritt an Veränderungen auf dem Weinmarkt mit sich bringen würde. Der letzte Eindruck aus der Region vermittelt somit Entwicklungspotential und Zivilisiertheit und bedient nicht, wie zu Beginn des Beitrags, den Topos der Rückständigkeit und Primitivität.

©Jacqueline Nießer: Freizeitgelände in Tirana (2017)

In den deutschsprachigen Südosteuropa-Studien wird seit rund fünfundzwanzig Jahren darüber diskutiert, welche Rolle es spielt, mit welchen Vorannahmen und Vorstellungen man über die Region spricht, forscht und schreibt. Wenn ich, wie der Leiter des ARD-Studios in Brüssel, Markus Preiß, mich wundere, warum Menschen eine starke Identität haben, die sie veranlasst, eigenständige Entscheidungen treffen zu wollen, verweist das auf ein paternalistisches Verständnis von Identitäten.

Unter dem Schlagwort „Dekolonialisierung“ wurden Vorschläge gemacht, wie man mit weniger Vorurteilen, also realitätsnaher, eine Region erkunden kann. Ein Vorschlag ist etwa, weniger nach vorgefertigten, starren Identitäten und Räumen zu fragen, sondern nach Zugehörigkeiten („belonging“, Derichs, 2017: 159). Um nach der Zugehörigkeit zu fragen, muss ich mit den Menschen vor Ort sprechen und ihnen auch zuhören können. Das bedeutet für die Südosteuropa-Studien, dass Wissen nicht nur von außen erarbeitet wird, sondern im Austausch mit den Leuten aus der Region entsteht. Zum Beispiel achtet man heutzutage darauf, nicht nur deutsch- oder englischsprachige Wissenschaftler*innen zu lesen, zu zitieren und zu Forschungsaufenthalten einzuladen, sondern auch Forschende aus der Region selbst als Expert*innen zu behandeln.

Folge ich also Stereotypen oder trete ich offener an eine Region heran? Die stereotypen Wahrnehmungen von Südosteuropa lassen sich meistens im Begriff des „Balkans“ wiederfinden. „Der Balkan“ ist somit keine neutrale, geografische Kategorie, sondern bedeutungsschwanger. Meint man tatsächlich konkret das Balkangebirge oder die Balkanhalbinsel, dann muss man das genauso sagen. Der Begriff „Balkan“ allein ist nicht so eindeutig.

Genauer genommen ist „der Balkan“ meistens negativ besetzt. „Benutzt man den Begriff für etwas anderes als nur für die Bezeichnung des Gebirges in Bulgarien,“ schreibt der slowenische Ethnologe Božidar Jezernik, wird er nie ohne Vorurteile verwendet, „als da wären Schmutz, Passivität, Unzuverlässigkeit, die Diskriminierung der Frau, Intrigen, Gewissenlosigkeit, Opportunismus, Faulheit, Aberglaube, Langsamkeit, schlecht arbeitende und überbordende Bürokratie und Ähnliches“ (Jezernik, 2016: 12-13). Ob mit dem Balkan positive oder negative Stereotypen verbunden werden, scheint allerdings Geschmacks- beziehungsweise Interpretationssache  zu sein. Balkan kann auch positiv gewendet für das Exotische, Vielfältige, Sinnliche, Pure, ‚das edle Wilde‘ stehen.( Čolović, 2013). Seit den Balkankriegen am Anfang und den jugoslawischen Zerfallskriegen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts dominiert allerdings das gewaltvolle, unruhige, bedrohliche Bild des Balkans („die Pulverfässer, in die niemand reisen will“ – Neumaier).

Diejenigen, die bei Anderen gerne das Negative suchen, haben meistens selbst Dreck am Stecken. So verhält es sich auch mit dem Balkan. Europa braucht den Balkan als Müllhalde negativer Eigenschaften, an der sich „der Westen“ in seiner Friedlichkeit und Zivilisiertheit beweihräuchern kann (Todorova, 1999: 267).. Die bulgarisch-französische Philosophin Julia Kristeva nennt diese Verquickung das „Uneigene unseres Eigenen“. „Der Balkan“ repräsentiert in diesem Sinne die Eigenschaften Europas, die man am liebsten nicht benennen, sondern unterdrücken möchte, die aber Teil des Eigenen sind.

Die kroatische Literaturwissenschaftlerin Katarina Luketić verweist darauf, dass dieser Mechanismus auch innerhalb der Region greift. Denn der Begriff Balkan wird auch von den Menschen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens selbst verwendet, gleichwohl auch eher für alles Negative, das man lieber woanders thematisiert als bei sich selbst. Gleichzeitig findet man auch Balkanstereotypen in der Popkultur (Turbofolk) auf dem Gebiet des einstigen Jugoslawiens und in Filmen (wie denen Emir Kustoricas etwa), die eher affirmativ wirken.

Eine nicht so psychoanalytische Metapher für den Balkan wie das „Andere in uns Selbst“ ist die des Hinterhofs oder Vorgartens. Der Hinterhof oder Vorgarten gehören zwar zum Haus (Europa), sie befinden sich aber auch weiterhin draußen. Derart lässt sich die Bezeichnung „Westbalkan“ verstehen, eine Erfindung der Europäischen Union für die Nachfolgestaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens plus Albanien, welche der EU beitreten dürfen. Ist man erst einmal Mitglied der EU, gehört man nicht mehr zum Westbalkan. Deswegen handelt der Beitrag des ARD-Europamagazins „Westbalkan“ auch nicht von Kroatien, Slowenien, Bulgarien oder Rumänien, welche bereits EU-Mitglieder sind.

Derartige Überlegungen gehören zum Ansatz einer Dekolonialisierung der Südosteuropaforschung. Das bedeutet, dass Dekolonialisierung nicht zwingend historische Prozesse thematisiert, die sich auf die Loslösung von Kolonien von der Kolonialmacht allein beziehen. Sondern Dekolonialisierung thematisiert Entflechtungen in viel breiterem Maße. Zum Beispiel die Entflechtungen unserer Vorannahmen und Herangehensweisen. Mit einer dekolonialen Perspektive betrachten wir Prozesse des Dominierens, und damit Vorgänge des Unterdrückens, Auslassens oder der Entmündigung – wer spricht, in welcher Sprache, mit wem, wie, über wen: Preiß an Neumaier: „was wollen die dann in der EU?“. Andersherum formuliert betreiben dekoloniale Ansätze Emanzipationsprojekte. Zugegeben, Journalist*innen haben für so etwas wenig Zeit. Aber sie folgen auch Trends. Und dabei können sie von der Südosteuropaforschung lernen.

Weiterführende Literatur:

Čolović, I.: Balkanist Discourse and Its Critics. In: Hungarian Review. Vol. IV, No. 2, 2013. URL: https://hungarianreview.com/article/balkanist_discourse_and_its_critics/ (24.07.2023)

Derichs, C.: Knowledge Production, Area Studies and Global Cooperation, Abington etc. 2017.

Jezernik, B.: Das wilde Europa. Der Balkan in den Augen westlicher Reisender. Göttingen 2016.

Kristeva, J.: Fremde sind wir uns selbst. 1990. Zitiert nach Jezernik 2016.

Luketić, K.: Balkan: od geografije do fantazije. Zagreb 2013. Leider liegt für Luketićs Buch über den Balkanbegriff auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens (insbesondere Kroatiens) keine deutsche Übersetzung vor. Einen kurzen Auszug auf Englisch bietet: https://www.kriticnamasa.com/item_en.php?id=1152 (03.08.23).

Nießer, J., Satjukow, E., Weber, C. (Hg.): „Südosteuropa ist tot? Lang lebe der Balkan! Positionierungen in einem interdisziplinären Forschungsfeld“. Südost-Forschungen. Internationale Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas. Jg. 81, 2023 (im Erscheinen).

Todorova, M.: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt 1999.

Todorova, M.: Southeast European Studies between Debates and Trends. In: Südosteuropa Mitteilungen 06/2021, S. 17-30.

Sundhaussen, H.: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Geschichte und Gesellschaft, 25. Jg., H. 4, 1999, S. 626-653.

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