In den deutschsprachigen Südosteuropa-Studien wird seit rund fünfundzwanzig Jahren darüber diskutiert, welche Rolle es spielt, mit welchen Vorannahmen und Vorstellungen man über die Region spricht, forscht und schreibt. Wenn ich, wie der Leiter des ARD-Studios in Brüssel, Markus Preiß, mich wundere, warum Menschen eine starke Identität haben, die sie veranlasst, eigenständige Entscheidungen treffen zu wollen, verweist das auf ein paternalistisches Verständnis von Identitäten.
Unter dem Schlagwort „Dekolonialisierung“ wurden Vorschläge gemacht, wie man mit weniger Vorurteilen, also realitätsnaher, eine Region erkunden kann. Ein Vorschlag ist etwa, weniger nach vorgefertigten, starren Identitäten und Räumen zu fragen, sondern nach Zugehörigkeiten („belonging“, Derichs, 2017: 159). Um nach der Zugehörigkeit zu fragen, muss ich mit den Menschen vor Ort sprechen und ihnen auch zuhören können. Das bedeutet für die Südosteuropa-Studien, dass Wissen nicht nur von außen erarbeitet wird, sondern im Austausch mit den Leuten aus der Region entsteht. Zum Beispiel achtet man heutzutage darauf, nicht nur deutsch- oder englischsprachige Wissenschaftler*innen zu lesen, zu zitieren und zu Forschungsaufenthalten einzuladen, sondern auch Forschende aus der Region selbst als Expert*innen zu behandeln.
Folge ich also Stereotypen oder trete ich offener an eine Region heran? Die stereotypen Wahrnehmungen von Südosteuropa lassen sich meistens im Begriff des „Balkans“ wiederfinden. „Der Balkan“ ist somit keine neutrale, geografische Kategorie, sondern bedeutungsschwanger. Meint man tatsächlich konkret das Balkangebirge oder die Balkanhalbinsel, dann muss man das genauso sagen. Der Begriff „Balkan“ allein ist nicht so eindeutig.
Genauer genommen ist „der Balkan“ meistens negativ besetzt. „Benutzt man den Begriff für etwas anderes als nur für die Bezeichnung des Gebirges in Bulgarien,“ schreibt der slowenische Ethnologe Božidar Jezernik, wird er nie ohne Vorurteile verwendet, „als da wären Schmutz, Passivität, Unzuverlässigkeit, die Diskriminierung der Frau, Intrigen, Gewissenlosigkeit, Opportunismus, Faulheit, Aberglaube, Langsamkeit, schlecht arbeitende und überbordende Bürokratie und Ähnliches“ (Jezernik, 2016: 12-13). Ob mit dem Balkan positive oder negative Stereotypen verbunden werden, scheint allerdings Geschmacks- beziehungsweise Interpretationssache zu sein. Balkan kann auch positiv gewendet für das Exotische, Vielfältige, Sinnliche, Pure, ‚das edle Wilde‘ stehen.( Čolović, 2013). Seit den Balkankriegen am Anfang und den jugoslawischen Zerfallskriegen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts dominiert allerdings das gewaltvolle, unruhige, bedrohliche Bild des Balkans („die Pulverfässer, in die niemand reisen will“ – Neumaier).
Diejenigen, die bei Anderen gerne das Negative suchen, haben meistens selbst Dreck am Stecken. So verhält es sich auch mit dem Balkan. Europa braucht den Balkan als Müllhalde negativer Eigenschaften, an der sich „der Westen“ in seiner Friedlichkeit und Zivilisiertheit beweihräuchern kann (Todorova, 1999: 267).. Die bulgarisch-französische Philosophin Julia Kristeva nennt diese Verquickung das „Uneigene unseres Eigenen“. „Der Balkan“ repräsentiert in diesem Sinne die Eigenschaften Europas, die man am liebsten nicht benennen, sondern unterdrücken möchte, die aber Teil des Eigenen sind.
Die kroatische Literaturwissenschaftlerin Katarina Luketić verweist darauf, dass dieser Mechanismus auch innerhalb der Region greift. Denn der Begriff Balkan wird auch von den Menschen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens selbst verwendet, gleichwohl auch eher für alles Negative, das man lieber woanders thematisiert als bei sich selbst. Gleichzeitig findet man auch Balkanstereotypen in der Popkultur (Turbofolk) auf dem Gebiet des einstigen Jugoslawiens und in Filmen (wie denen Emir Kustoricas etwa), die eher affirmativ wirken.
Eine nicht so psychoanalytische Metapher für den Balkan wie das „Andere in uns Selbst“ ist die des Hinterhofs oder Vorgartens. Der Hinterhof oder Vorgarten gehören zwar zum Haus (Europa), sie befinden sich aber auch weiterhin draußen. Derart lässt sich die Bezeichnung „Westbalkan“ verstehen, eine Erfindung der Europäischen Union für die Nachfolgestaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens plus Albanien, welche der EU beitreten dürfen. Ist man erst einmal Mitglied der EU, gehört man nicht mehr zum Westbalkan. Deswegen handelt der Beitrag des ARD-Europamagazins „Westbalkan“ auch nicht von Kroatien, Slowenien, Bulgarien oder Rumänien, welche bereits EU-Mitglieder sind.
Derartige Überlegungen gehören zum Ansatz einer Dekolonialisierung der Südosteuropaforschung. Das bedeutet, dass Dekolonialisierung nicht zwingend historische Prozesse thematisiert, die sich auf die Loslösung von Kolonien von der Kolonialmacht allein beziehen. Sondern Dekolonialisierung thematisiert Entflechtungen in viel breiterem Maße. Zum Beispiel die Entflechtungen unserer Vorannahmen und Herangehensweisen. Mit einer dekolonialen Perspektive betrachten wir Prozesse des Dominierens, und damit Vorgänge des Unterdrückens, Auslassens oder der Entmündigung – wer spricht, in welcher Sprache, mit wem, wie, über wen: Preiß an Neumaier: „was wollen die dann in der EU?“. Andersherum formuliert betreiben dekoloniale Ansätze Emanzipationsprojekte. Zugegeben, Journalist*innen haben für so etwas wenig Zeit. Aber sie folgen auch Trends. Und dabei können sie von der Südosteuropaforschung lernen.