Der Herbst auf dem Balkan war in vielfacher Hinsicht ein heißer. Ungewöhnlich hohe Außentemperaturen erlaubten Flaneuren noch Ende Oktober in Skopje die abendliche Nutzung gastronomischer Außenbereiche. Sprichwörtlich beinahe übergekocht war dagegen einen Monat zuvor die politische Situation im benachbarten Kosovo. Am 24. September fielen im Norden Kosovos Schüsse, als ein serbisches Überfallkommando einen kosovarischen Polizisten erschoss und anschließend drei der Paramilitärs getötet wurden. Die Gewalt schien kurzzeitig zu eskalieren. Ängste griffen um sich, sowohl in der Region als auch innerhalb der internationalen Politik ob einer drohenden kriegerischen Eskalation. Doch es geschah: „nichts“. Zumindest nichts, was weitere Turbulenzen hätte heraufbeschwören können. Der Verfasser dieser Zeilen verbrachte zu Archivrecherchen ab Mitte Oktober jeweils zehn Tage in Prishtina und in Skopje. Von diesen Tagen auf dem Balkan handelt dieser Blogbeitrag. Er möchte ein paar Schlaglichter auf diese beiden Städte, die dorten Gesellschaften und ihre Nöte werfen, ohne Anspruch darauf zu haben, die „großen“ politischen Themen hinreichend zu behandeln.
Prishtina und Skopje verbindet heute eine erst vor wenigen Jahren (2019) fertiggestellte Autobahn. Insgesamt sind es etwas mehr als 90km zwischen beiden Städten, die noch bis zu den Balkankriegen 1912/13 Bestandteil des Osmanischen Reichs und administrativ einer gemeinsamen Verwaltungseinheit untergeordnet waren. Zuletzt war es das Vilayet Kosovo (1877–1913) mit Üsküb (Skopje, alb. Shkup) als Vilayet-Hauptstadt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten sich jene Grenzen aus, die mit dem Zerfall Jugoslawiens den Charakter von Staatsgrenzen annehmen sollten. Zuvor, im sozialistischen Jugoslawien gehörten Kosovo und Makedonien zu den wirtschaftlich schwächsten Landesteilen Jugoslawiens mit ausgeprägter Arbeitsemigration. Nichtsdestotrotz übte auch der Süden des Landes auf westeuropäische Touristen eine Anziehungskraft aus – diese begannen in den 1950er/1960er Jahren, Jugoslawien als Reiseziel zu entdecken. So notierte der englische Autor John Cuddon in seinem 1967 erschienenen Reiseführer zu Jugoslawien über Prishtina: Sie sei eine „reizende, ständig wachsende Marktstadt“, die „recht planlos angelegt“ sei und ihm zufolge auch „nicht als lohnendes Reiseziel [gilt]. Aber mir gefällt es hier.“ Zu dem im Juli 1963 von einem verheerenden Erdbeben getroffen und in großen Teilen zerstörten Skopje hielt er fest: „Der Vardar trennt die Stadt ziemlich genau in zwei Hälften, die durch eine alte Brücke verbunden sind. Auf der einen Seite herrscht 20. Jahrhundert und abendländische Zivilisation, auf der anderen Vergangenheit und Orient.“[1] Cuddons Betrachtungen mögen orientalisierend sein, interessant sind sie dennoch und ein möglicher Ausgangspunkt für den heutigen Blick auf beide Städte allemal. Prishtinas Bevölkerungszahl stieg nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tat ständig an, von 19.631 (lt. Volkszählg. 1948) bis auf 108.083 (Volkszählg. 1981) bzw. 198.897 gemäß letzter Volkszählung (v. 2011) – gegenwärtige Schätzungen gehen sogar von bis zu 300.000 und mehr aus. Einen gewissen planlosen Zustand mag der fremde Beobachter aber auch heute ausmachen und als in einem klassischen Sinne „schön“, wie dies für Salzburg oder Regensburg gelten mag, wird die Stadt, nun Hauptstadt, in keinem Reiseführer gepriesen. Dennoch hat es auch mir in dieser quirligen Stadt mit hoher junger Einwohnerschaft gefallen. Skopje dagegen war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutender Verwaltungssitz mit hauptstädtischen Funktionen. Danach wuchs die städtische Einwohnerzahl von 88.355 (1948) auf 448.200 (1981) an und für die Volkszählung von 2021 erhob das Staatliche Statistikamt Nordmazedoniens in Skopje 560.998 Personen.[2] Von diesen ließen sich 323.236 als ethnische Mazedonier registrieren, 136.478 als Albaner, 19.891 als Roma, 9.810 als Serben, 9.281 als Türken, 8.038 als Bosniaken etc.. Prishtina dagegen hatte seinen multiethnischen Charakter mit dem Kosovokrieg 1998/1999 verloren. Von den 2011 198.897 gezählten bekannten sich lediglich 2.156 als Türken, 557 als Ashkali, 430 als Serben usw.. 1981 wiederum hatten sich noch 16.898 Personen als Serben, 5.101 als Roma und 4.169 als Montenegriner deklariert.
Das von Cuddon gezeichnete (bereits damals fragwürdige bzw. falsche) Bild der Zweiteilung in Moderne und abendländische Zivilisation auf der einen und Rückständigkeit und Orient auf der anderen Seite des Vardar kann als leichtfertige stereotype Betrachtungsweise nach wie vor verfangen. Weit kommt man damit jedoch nicht. Die Nöte, Sorgen und Hoffnungen der Menschen hinsichtlich eines funktionierenden Rechtsstaats mit Aussicht auf baldigen EU-Beitritt – 2022 konnte Skopje EU-Beitrittsgespräche aufnehmen – dürfte viele in ihrem in die Zukunft gerichteten Blick einen. Ebenso gilt dies hinsichtlich eines grenzüberschreitenden Abtastens gen Westen in der Erwartung, in der EU eventuell ein besseres bzw. leichteres Leben beginnen zu können; immerhin betrug die Arbeitslosenquote in Nordmazedonien 2022 ca. 14,5 Prozent, während sie in Kosovo für 2021 mit ca. 20,7 Prozent festgehalten wurde. Und wenig rosig sind die prognostizierten demographischen Entwicklungen, die im Dezember 2023 Staatspräsident Stevo Pendarovski für Nordmazedonien beschrieb: „The population is rapidly aging, and the country is rapidly emptying. We have already reached the demographic projections of the United Nations for our country for 2030. Based on the census, the State Statistical Office made the projections, according to which, by 2070, the population would decrease by as much as 35%, that is, from the current 1.8 to barely 1.2 million inhabitants.“[3] In Skopje hat man auf beiden Seiten des Vardar ähnliche Zukunftssorgen. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die interethnischen Beziehungen zwischen den zwei größten Bevölkerungsgruppen, Mazedoniern und Albanern, zeitweise sehr angespannt waren, begleitet von gewaltsamen nationalistischen Ausschreitungen. Ein gewisses Maß an gegenseitigem Misstrauen ist auch heute vorhanden. Doch die Ende Januar 2024 erstmalige und demokratische Wahl eines in Mazedonien beheimateten Albaners zum Ministerpräsidenten Nordmazedoniens, von Talat Xhaferi, immerhin ein ehemaliger Guerillakommandant im mazedonischen Krieg von 2001, gibt Hoffnung. Sie zeigt, dass Multiethnizität funktioniert.[4] Hingewiesen sei an dieser Stelle außerdem auf den wenig bekannten 2013 eingeweihten Skulpturengarten des Bildhauers Tome Serafimovski im kleinen Innenhof der Mazedonischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Dieser schuf mit seinen Büsten zu zentralen Personen der südosteuropäischen Geschichte (vom slowen. Slawisten Jernej Kopitar, über u. a. den osmanischen Chronisten Evliya Çelebi, den rumänischen Fürsten Alexandru Ioan Cuza, Mustafa Kemal Atatürk) ein Gegennarrativ zu den die Innenstadt okkupierenden kitschigen (aber durchaus als Touristenmagneten funktionierenden) Statuen „mazedonischer Helden“, die Ministerpräsident Nikola Gruevski im Zuge seines umstrittenen Projekts Skopje 2014 aufstellen ließ. Das für Südosteuropa oftmals so typisch Multiethnische findet sich demnach in vielfacher Form wieder, ist aber auch als ein fortwährender Aushandlungsprozess zu verstehen.
Zurück nach Prishtina. Die politische Situation ist hier wesentlich verzwickter als in Skopje. Der politische Disput mit Belgrad über die Unabhängigkeitsfrage und bezüglich des noch zu errichtenden serbischen Gemeindeverbands tritt auf der Stelle; die Tonlage zwischen Prishtina und Belgrad bleibt schrill. Hinzu kommt ein innenpolitisch unter Kritik stehender Premierminister Albin Kurti, dessen Politik für den Zeitraum 1.2.2021–31.1.2023 im neuesten Länderbericht zu Kosovo des Bertelsmann Transformation Index kritisch umrissen wurde: Er habe nur wenig bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität erreicht, der Dialog mit Belgrad sei aufgrund dessen mangelnden Engagements ins Stocken geraten und verschleppte Reformen der Regierung etc. hätten die Transformation verlangsamt.[5] Damit war die Situation noch vor den blutigen Ereignissen der zweiten Jahreshälfte 2023 beschrieben. In Prishtina schien dies für mich als Fellow weit weg zu sein. Meinen Gesprächspartnern war jedoch in der Diskussion neben einem allgemeinen Misstrauen gegenüber „den Serben“ unter anderem Verunsicherung wie auch Selbstbewusstsein herauszuhören. Einerseits waren sie hinsichtlich der EU-Politik gegenüber Serbien verunsichert (und enttäuscht), andererseits zeigten sie sich gleichzeitig selbstbewusst genug, nicht hinter das Erreichte bezüglich ihrer Eigenstaatlichkeit zurücktreten zu wollen. Aber dies waren auch nur einige der Eindrücke eines heißen Herbstes auf dem Balkan, umrahmt von gewichtigen Alltagsnöten der dort lebenden Menschen, seien es die hohen Lebensmittelpreise oder die ungewissen Zukunftsaussichten.
[1] J. A. Cuddon, Jugoslawien. Ein Führer. München 1967, 240 (zu Skopje), 323 (zu Prishtina).
[2] Siehe zu Zahlen und urbaner Geschichte: Jasna Stefanovska/Janze Koželj, Urban planning and transitional development issues: The case of Skopje, Macedonia, Urbani izziv 23 (2012), H. 1, 91–100; Besim Gollopeni, Socio-Urban Developments in Kosovo: Study Case Pristina, Micro Macro & Mezzo Geo Information 6 (2016), 81-93.
[3] Siehe die Verlautbarungen vom 15.12.2023: Population projections of the Republic of North Macedonia by 2070, unter: https://www.stat.gov.mk/Aktivnosti_en.aspx?rbra=338
[4] Andreas Ernst, Ex-Guerillakommandant und Albaner – das multiethnische Nordmazedonien hat einen neuen Regierungschef, NZZ v. 31.1.2024, https://www.nzz.ch/international/nordmazedonien-eine-funktionierende-multiethnische-demokratie-in-europa-ld.1776575
[5] Bertelsmann Stiftung, BTI 2024 Country Report — Kosovo. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2024, 3.