Die Linguistik an der Universität Regensburg hat einen Schwerpunkt auf Mehrsprachigkeitsforschung, wobei der Fokus auf Fragen regional spezifischer Praktiken liegt. Wir gehen z.B. davon aus., dass ein sog. heritage language in den US andere Eigenschaften aufweist als in Deutschland. In diesem Geiste haben Björn Hansen und Rupert Hochholzer im Sommersemester ein Hauptseminar zum Thema ‚Mehrsprachigkeit in Regensburg‘ abgehalten. Ziel war es Spezifika der Mehrsprachigkeit in Bayern empirisch zu erforschen. Im Rahmen des Seminars ist nun die allererste Sprachbiographie einer bundesdeutschen Politikerin entstanden. Die Forschungsfragen lauteten: Was bedeutet es, in zwei Sprachen aufzuwachsen? Wie prägt Sprache das eigene Leben? Und wie kann man die eigene Mehrsprachigkeit im Beruf, sogar in der Politik, einsetzen? Diese Fragen stehen im Zentrum eines einzigartigen sprachbiographischen Interviews mit Michaela Kaniber, der Bayerischen Staatsministerin für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus.
Michaela Kaniber ist nicht nur eine bekannte CSU-Politikerin, sondern auch ein vorbildhaftes Beispiel dafür, wie es ist, mit einer Herkunftssprache (das heißt der Sprache der Eltern) in Deutschland aufzuwachsen und zu leben. Als Kind von kroatischen Eltern ist sie in Bayern groß geworden und war nur in den Sommerferien für mehrere Wochen am Stück in der Heimat ihrer Mutter. Seit ihrer Kindheit bewegt sie sich deshalb mühelos zwischen Kroatisch, Bairisch und Standarddeutsch hin und her. Doch diese sprachliche Vielfalt war kein Selbstläufer – sie war, und ist bis heute, Teil eines stetigen Aushandelns zwischen Herkunft, Integration und beruflichem Erfolg.
In dem Interview mit Rupert Hochholzer, Professor für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Regensburg, und Björn Hansen, Professor für slavistische Linguistik gewährt Kaniber einen ausführlichen Einblick in ihre sprachliche Biographie. Sie erzählt, dass Kroatisch in ihrer Familie eine zentrale Rolle spielte, während Bairisch und Hochdeutsch vor allem durch Kindergarten, Schule und die Gäste im familienbetriebenen Gasthaus in ihren Alltag traten. Besonders interessant ist dabei, dass die Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation ist, sondern auch eine soziale Ausschluss- und Einschlussfunktion hat. So lernte sie früh, dass in der Küche Kroatisch gesprochen wurde, während die Familienmitglieder im Gastraum auf Standarddeutsch oder Bairisch umschalteten.
Aber wie geht sie heute, als Ministerin, mit ihrer Mehrsprachigkeit um? Im politischen Alltag spricht sie größtenteils Standarddeutsch – doch gerade bei Begegnungen mit kroatischen Landsleuten oder in der bayerisch-kroatischen Regierungskommission – deren Vorsitzende sie nicht rein zufällig geworden ist – macht sie bewusst von ihren kroatischen Sprachkenntnissen Gebrauch. Das Bairische, das ihr ebenso am Herzen liegt, verwendet sie, wenn sie in ländlichen Regionen unterwegs ist oder eine Rede im Bierzelt hält. Die Fähigkeit, zwischen einem Dialekt und der Standardsprache hin- und herzuwechseln, wird häufig vergessen, wenn es um Mehrsprachigkeit geht, sie zählt aber als sogenannte „innere“ Mehrsprachigkeit auch zu dem Phänomen.
Neben all den positiven Aspekten ihrer Mehrsprachigkeit bedauert Michaela Kaniber nur, dass sie, als sie selbst Mutter geworden ist, ihre drei Kinder nicht zweisprachig erzogen hat. Da ihr deutscher Ehemann zwar inzwischen einigermaßen Kroatisch versteht, aber die Sprache nicht aktiv spricht, ist Kroatisch nicht zur Familiensprache geworden. Außerdem war das Muttersein am Anfang so stressig, dass sie keine Kapazitäten hatte, um ihren Kindern selbst die Sprache beizubringen. Die Kinder verstehen zwar auch das meiste, können aber selbst, beispielsweise mit der Großmutter, nicht fließend Kroatisch sprechen. Ihre jüngste Tochter hat nun ein großes Bedürfnis, die Sprache in einem herkunftssprachlichen Unterricht (einem Unterricht extra für Kinder mit kroatischem Familienhintergrund) zu erlernen. Diese Möglichkeit hatte Michaela Kaniber in ihrer Jugend nicht, da sie viel im Familienbetrieb mithelfen musste und ihr Vater nicht wollte, dass sie ein solches Angebot in Anspruch nimmt. Deshalb hat sie heutzutage manchmal noch Probleme mit der kroatischen Rechtschreibung.
Der Artikel, der auf Basis des Interviews entstanden ist, setzt sich mit Michaela Kanibers Erfahrungen aus einer wissenschaftlichen Perspektive auseinander. Er bietet eine detaillierte Analyse von Frau Kanibers Sprachgebrauch in verschiedenen Lebensphasen – von der Kindheit in einer kroatischsprachigen Familie über die Schulzeit bis hin zu ihrer heutigen Rolle als Politikerin. Ein besonderer Fokus liegt auf den Sprachdomänen: In welchen Lebensbereichen spricht sie welche Sprache, und welche Bedeutung haben Kroatisch, Bairisch und Hochdeutsch in ihrem Alltag? Außerdem beleuchtet der Artikel, wie Kaniber ihre Mehrsprachigkeit reflektiert, welche sprachlichen Herausforderungen sie erlebt hat und wie sie ihre Identität als „bayerische Kroatin“ versteht. Die Studie ist nicht nur interessant für die Forschung, sondern öffnet auch den Blick auf ein größeres gesellschaftliches Thema: die Rolle von Herkunftssprachen in Deutschland und wie sie den Lebensweg und die Identität beeinflussen können. Die Studie ist die erste ihrer Art in Deutschland und bietet wertvolle Einblicke in die Sprachverwendung und -einstellungen einer Politikerin. Das Forschungsteam überlegt, ob sich das Thema ausweiten ließe. Schließlich haben wir ja genügend Politiker mit mehrsprachigem Hintergrund in allen Parteien: Cem Özdemir (die Grünen), Aydan Özoğuz (SPD), Bijan Djir-Sarai (FDP), Amira Mohamed Ali (BSW) oder Petr Bystron (AfD), um nur einige Namen zu nennen.
Neugierig geworden? Dann taucht ein in die spannende Sprachbiographie von Michaela Kaniber – ein faszinierendes Beispiel für eine mehrsprachige Erfolgsgeschichte in Deutschland.
Literatur:
Hochholzer, Rupert/Hansen, Björn/Breton, Juliette/Lüke, Konstanzia/Sahan-Barat, Ayfer (2024): “‘Ich bin eine wirklich stolze bayerische Kroatin‘ – ein sprachbiographisches Interview mit der bayerischen Staatsministerin Michaela Kaniber“. In: Siegfried Gehrmann/Rupert Hochholzer/Ana Petravic/Mario Grčević/Yvonne Klietz: Mehrsprachigkeit in Bildung und Wissenschaft. Eine europäische Perspektive. Münster und New York: Waxmann.
Siehe: https://www.waxmann.com/waxmann-buecher/?tx_p2waxmann_pi2%5bbuchnr%5d=4933&tx_p2waxmann_pi2%5baction%5d=show
Weiterführende Literatur:
Busch, Brigitta (2017): Mehrsprachigkeit. 2. Auflage. Wien: facultas.Franceschini, Rita/Miecznikowski, Johana (Hr.) (2004): Leben mit mehreren Sprachen. Sprachbiographien. Bern, Berlin: Peter Lang.
Hansen, Björn/Zielińska, Anna (Hr.) (2022): Soziolinguistik trifft Korpuslinguistik. Deutsch-polnische und deutsch-tschechische Zweisprachigkeit. Heidelberg: Winter Verlag.
Hochholzer, Rupert/Ritter, Anna (2019): „Sprachbiographien mehrsprachiger Jugendlicher. Eine Studie mit neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern“. In: Critical Multilingualism Studies 7(3), 32-54.
Riehl, Claudia Maria (2014): Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt: WBG.