Proteste sind weiblich? Ein Jahr studentischer Proteste in Serbien zwischen Novi Pazar und Novi Sad

von Aleksandra Salamurović, seeFField Projektkoordinatorin und gebürtige Novisaderin

Fotocollage der Proteste, Gedenkversanstaltung am 1.11. in Nürnberg, @Aleksandra Salamurović

Am 1. November jährte sich der Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad – ein Ereignis, das eine bis heute anhaltende Protestwelle der Studierenden in ganz Serbien auslöste. Die Bewegung zeichnet sich durch ihre Dauer, die Vielfalt an Ausdrucksformen, basisdemokratische Strukturen und ihre bemerkenswerte Mobilisierungskraft aus. Besonders interessant ist die bislang kaum untersuchte Frage der Genderrollen: Wie wirken sich Proteste in einem autoritären, patriarchalen System aus, wenn sie von einer Gruppe getragen werden, in der laut UNESCO 32 Der Beitrag beleuchtet, wie die Bewegung gesellschaftliche Normen herausfordert, Gleichberechtigung sichtbar macht und neue Perspektiven auf Toleranz, Mitbestimmung und politische Partizipation eröffnet.

Првог новембра навршило се годину дана од урушавања надстрешнице железничке станице у Новом Саду када је погинуло 16 особа – догађаја који је покренуо протестни талас који и данас траје широм Србије. Превасходно студентски, протести се истичу својом дуготрајношћу, разноврсношћу облика изражавања, структурама базичне демократије и изузетном способношћу мобилизације. Посебно је интересантно до сада мало проучавано питање родних улога: како протести делују у ауторитарном и патријархалном систему када су њихови главни носиоци група у којој, према подацима УНЕСКО-а, студира 32 % више жена него мушкараца? Текст се бави питањем како овај покрет доводи у питање владајуће друштвене норме, а пре свега питање родне равноправности и отвара нове перспективе за толеранцију и инклузивнију политичку партиципацију.

Am 1. November war es ein Jahr her, dass das Bahnhofsvordach in Novi Sad einstürzte – ein Ereignis, das nicht nur spontane Schweigemärsche in der Stadt auslöste, sondern auch eine Protestwelle, die bis heute anhält. Ausgelöst und getragen wurde diese Bewegung vor allem von Studierenden. Sechzehn Schweigeminuten, Fakultätsblockaden, tagelange Protestmärsche zwischen verschiedenen serbischen Städten, eine Fahrradtour von Novi Sad nach Straßburg und sogar ein Marathonlauf nach Brüssel wurden zu sichtbaren, physisch-räumlichen Formen des Protests. Begleitet wurden sie von einer professionell gestalteten und strategisch geführten Medienkampagne in den sozialen Netzwerken – insbesondere auf Instagram und X –, ergänzt durch Live-Übertragungen der Proteste (Studierender TV), Mobile Witnessing und die „Blockade-Tagesschau“. Die Aktionen der Studierenden erreichten Menschen unterschiedlichsten Alters, sozialen Hintergrunds und aus allen Teilen des Landes – und sie mobilisierten letztlich mehr Teilnehmer:innen als die regierenden Strukturen bei ihren bezahlten Partei- und Führungskultkundgebungen je zuvor. Das zeigte sich eindrucksvoll bei allen bisherigen großen Kundgebungen: in Belgrad (22.12.2024), Novi Sad (01.02.2025), Kragujevac (15.02.2025), Niš (01.03.2025), erneut in Belgrad (15.03. und  28.06.2025) und letztlich wieder in Novi Sad am 1.11.2025.

Bahnhof in Novi Sad, Januar 2025 @Aleksandra Salamurović

Es sind bereits mehrere wissenschaftliche Analysen zu den aktuellen studentischen Protesten in Serbien erschienen (vgl. Literaturempfehlungen am Ende dieses Textes). Auch auf unserem Blog (vgl. Beiträge vom März 2025 und vom Juni 2025) und in unserem Podcast haben wir mehrfach darüber berichtet  (Podcast-Folge 19 aus Juli 2025).

Der Protest ist besonders durch seine Dauer, die Vielfalt der Ausdrucksformen, das Fehlen klarer Führungspersönlichkeiten, basisdemokratische Strukturen und unerwartete Mobilisierungskraft bemerkenswert – in einem Land, das seit 13 Jahren wirtschaftlich angeschlagen ist, geprägt von Politikverdrossenheit, Misstrauen gegenüber Institutionen und mangelnder politischer Bildung.

Auffällig ist jedoch, dass eine entscheidende Frage bislang kaum gestellt wurde: Welche Rolle spielen Genderrollen in einem autoritären und patriarchalen System, wenn die Protestbewegung von einer Bevölkerungsgruppe getragen wird, in der laut UNESCO 32 % mehr Frauen als Männer studieren? Dieser Beitrag möchte einige Beobachtungen dazu teilen.

Was hat Gender mit Protesten gegen Korruption und für die Einhaltung der Gesetze zu tun?

Wie Vjollca Krasniqi in ihrem Beitrag gleich am Anfang pointiert feststellte, „public space is gendered and never neutral“.  Bei Protesten, die auch im öffentlichen Raum stattfinden, werden nicht nur biologische Körper sichtbar, sondern sie werden, um es mit Judith Butler auszudrücken, zum Medium, Träger:innen herrschender gesellschaftlicher Normen, Regeln und Machtverhältnisse. Der aktuelle Protest der Studierenden wurde sehr schnell zu einem Protest gegen ein allgemeines dysfunktionales System und den Machtmissbrauch in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens in Serbien. Daher ist es für eine Analyse von Protesten zentral, potenzielle sichtbare oder diskursiv geformte Genderstereotype und Rollenbilder zu hinterfragen.

Aus vielen Studien ist es bekannt, dass es in allen Ländern des Westbalkan negative Genderstereotype gibt, besonders gegen Frauen und den LBTQ+ Personen (vgl. Dimitrievski 2025).  Allerdings zeigte eine Studie aus 2017 zu den Gendervorurteilen unter Studierenden der staatlichen Universitäten in Serbien, dass Studierende im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung in Serbien und ähnlichen Regionen tendenziell egalitärere Vorstellungen von Geschlechterrollen haben (vgl. Mihić et al. 2017). Dieser empirische Forschungsbefund spiegelt sich direkt in der Organisationsstruktur der aktuellen Proteste wider: In allen studentischen Arbeitsgruppen sind Frauen und Männer gleichermaßen vertreten. Die Reden bei den Kundgebungen werden von beiden gehalten und bei Medienauftritten sind sowohl Studentinnen und Studenten vertreten, je nach Interesse und Begabung. Auch an der Fakultät für Technologie und Metallurgie, wo laut offizieller Statistik mehr Männer als Frauen studieren, wurde in Interviews bestätigt, dass keine Genderdiskriminierung bei der Organisation der Protestaktionen existiert Fakultät.

Auf Instagram, einem der medialen Hauptkanälen der Studierenden, wird gendergerechte Sprache benutzt. In einem der Posts des Profils studenti_u_blokadi vom 25.10.2025 heißt es „Postovani zborovi, sugradjani i sugradjanke, saborci i saborkinje, od 30. oktobra studenti i studentkinje će u, u znak solidarnost, pešačiti od Beograda do Novog Sada“. Zwar ist dieser Sprachgebrauch nicht systematisch, dennoch ist es ein klares Zeichen für eine sprachliche Gleichberechtigung in dem Land, in welchem gendergerechte Sprache, obwohl gesetzlich seit 2024 verpflichtend, von den herrschenden und einflussreichen politischen und gesellschaftlichen Akteuren vehement abgelehnt und/oder bekämpft werden.

Studierende sind zum zentralen gesellschaftlichen Akteur geworden, sichtbar etwa im Protestbanner „Kad porastem biću student“ („Wenn ich groß werde, werde ich Student“). Besonders Studentinnen aller religiösen, ethnischen und ideologischen Zugehörigkeiten agieren als wirksame Akteurinnen. In Novi Pazar, einer Stadt mit bosniakisch-muslimischer Mehrheit, marschierten Studierende 16 Tage nach Novi Sad, um der Opfer des Bahnhofsunglücks zu gedenken und am großen Protest am 1. November teilzunehmen. Unter ihnen waren Studentinnen mit Hijab und der serbischen Nationalflagge – Frauen, die nicht nur ein Symbol setzten, sondern konkret vorlebten, wie ein multiethnisches, tolerantes Serbien jenseits des bisherigen Regimes aussehen kann. Sie wurden von allen Kommiliton:innen und der gesamten Bevölkerung willkommen geheißen. Politologe Fahrudin Kladničanin beschreibt dies als Zusammenbruch der alten, angstbasierten Ordnung: Nationalismus verliert seine Macht, wenn der „Andere“ nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wird, sondern als Mensch und Mitstreiter. Im September 2025 erhielten Studentinnen den Preis „Eroberung der Freiheit“ für Frauenaktivismus, als Anerkennung für ihren Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Toleranz.

Ein weiterer genderrelevanter Aspekt bei den Protesten ist die Frage nach der Gewaltausübung. Da weibliche Protestierende grundsätzlich als gewaltfrei eingestuft werden (weil für Frauen ein generelles Geschlechterstereotyp als ruhige, gewaltfreie Personen gilt, vgl. Naunov 2025), wird die Polizeigewalt und jegliche Form der Repression gegen Frauen bei Protesten negativ beurteilt. Aus Sicht der Studierenden waren die Proteste von Anfang an gewaltfrei; sie setzten sich physisch, sprachlich und medial für Deeskalation ein. Dennoch wurden Studentinnen und Studenten gleichermaßen von Polizei und Regimeanhänger:innen angegriffen, verhaftet und verletzt. Die Anhänger:innen der Regierungspartei haben im Februar die Novi Sader Studentin Ana V. mit den Schlägern schwere Körperverletzungen zugefügt; die Belgrader Studentin Sonja Ponjavić wurde im Januar auf einer Straßenblockade angefahren; die Belgrader Studentin Nikolina Sinđelić wurde im August nach einer Demo verhaftet und von der Polizei geschlagen und mit Vergewaltigung gedroht. Das sind nur einige der vielen Fällen der genderorientierten Brutalität, die auf die vorherrschende Genderrollen in der autoritären und patriarchalen Gesellschaft zurückgeführt werden können.

Ein Zwischenfazit

Eines der Elemente, die regulär in die akademischen und medialen Analysen mit einfließen, ist die Frage nach dem Erreichen der Protestziele. Die von den Studierenden gleich am Anfang der Blockaden im Dezember letzten Jahres formulierten Forderungen wurden nachweislich nicht erfüllt, trotz des Rücktritts der damaligen Regierung im Januar 2025. Indirekte Ziele, wie gesellschaftliche Solidarität, neue Hoffnung, Respekt gegenüber Andersdenkenden und Veränderungen im Verständnis von Genderrollen, lassen sich jedoch beobachten. Die Protestbewegung hat damit nicht nur institutionelle Strukturen infrage gestellt, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlechterrollen nachhaltig beeinflusst.

Weiterführende Literatur:

Beširević, Katarina. 2025. “‘Nisi nadležan’: How a Student Movement Dictates Political Change in Serbia (2024/2025).” Contemporary Southeastern Europe, 12(1), 30-38. DOI 10.25364/02.12:2025.1.3.

Damčević, Katarina. 2025. “Serbia’s Protests as a Cultural Explosion: Symbols, Memory, and the Struggle for Meaning.” OstBLOG. Link: https://ostblog.hypotheses.org/7642.

Dimitrievski, Angel. 2025. The Anti-Gender Movement as a Threat to Democracy in the Western Balkans. The German Marshall Fund of the United States. https://www.jstor.org/stable/resrep71249.1.

Dinić, Ivana. 2025. “Serbia’s New Student Movement: A Conversation with Dubravka Stojanović.” Comparative Southeast European Studies 73 (1): 101–114. https://doi.org/10.1515/soeu-2025-0016.

Knežević, Aleksandra. 2025. “An Autoethnographic Account of the Anti-Corruption Student Protests in Serbia 2024/25.” Contemporary Southeastern Europe, 12(1), 51-61. DOI 10.25364/02.12:2025.1.5.

Markovic, Aleksandra, Zvijer, Nemanja, Radoman, Marija. 2025. Photographic Archive of Student Protest Banners from the Faculty Blockades in Serbia, 2024–2025 (Version 1) [Data set]. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.15470518.

Mihić Vadimir, Šimoković Ksenia, Kapetan Andrea, Bojović Gordana. 2017. “Correlations of Attitudes towards Gender Roles and Ambivalent Gender Prejudices in Serbian Students”. Teme – Časopis za Društvene Nauke 3:807-822. https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=596784.

Naunov, Martin.  2025. “The Effect of Protesters’ Gender on Public Reactions to Protests and Protest Repression”. American Political Science Review (2025) 119, 1, 135–151. doi:10.1017/S0003055424000133.

Simon, Daniela and Trifunjagić, Danica. 2025. Die Studierendenproteste in Serbien 2024/25. Zwischen Trauer, Symbolpolitik und internationaler Resonanz. Zeitgeschichte-online. https://www.zeitgeschichte-online.de/themen/die-studierendenproteste-serbien-202425.

Simon, Daniela and Trifunjagić, Danica. 2025. “Threatened Orders, Contested Frames: Media Narratives of Student Protest in Serbia, 1996–1997 and 2024–2025”. In: Protests and New Democratic Imaginaries in Serbia, eds. Florian Bieber, Gazela Pudar Draško, Igor Išpanović.  Routledge (to be published).

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