Was hat Gender mit Protesten gegen Korruption und für die Einhaltung der Gesetze zu tun?
Wie Vjollca Krasniqi in ihrem Beitrag gleich am Anfang pointiert feststellte, „public space is gendered and never neutral“. Bei Protesten, die auch im öffentlichen Raum stattfinden, werden nicht nur biologische Körper sichtbar, sondern sie werden, um es mit Judith Butler auszudrücken, zum Medium, Träger:innen herrschender gesellschaftlicher Normen, Regeln und Machtverhältnisse. Der aktuelle Protest der Studierenden wurde sehr schnell zu einem Protest gegen ein allgemeines dysfunktionales System und den Machtmissbrauch in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens in Serbien. Daher ist es für eine Analyse von Protesten zentral, potenzielle sichtbare oder diskursiv geformte Genderstereotype und Rollenbilder zu hinterfragen.
Aus vielen Studien ist es bekannt, dass es in allen Ländern des Westbalkan negative Genderstereotype gibt, besonders gegen Frauen und den LBTQ+ Personen (vgl. Dimitrievski 2025). Allerdings zeigte eine Studie aus 2017 zu den Gendervorurteilen unter Studierenden der staatlichen Universitäten in Serbien, dass Studierende im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung in Serbien und ähnlichen Regionen tendenziell egalitärere Vorstellungen von Geschlechterrollen haben (vgl. Mihić et al. 2017). Dieser empirische Forschungsbefund spiegelt sich direkt in der Organisationsstruktur der aktuellen Proteste wider: In allen studentischen Arbeitsgruppen sind Frauen und Männer gleichermaßen vertreten. Die Reden bei den Kundgebungen werden von beiden gehalten und bei Medienauftritten sind sowohl Studentinnen und Studenten vertreten, je nach Interesse und Begabung. Auch an der Fakultät für Technologie und Metallurgie, wo laut offizieller Statistik mehr Männer als Frauen studieren, wurde in Interviews bestätigt, dass keine Genderdiskriminierung bei der Organisation der Protestaktionen existiert Fakultät.
Auf Instagram, einem der medialen Hauptkanälen der Studierenden, wird gendergerechte Sprache benutzt. In einem der Posts des Profils studenti_u_blokadi vom 25.10.2025 heißt es „Postovani zborovi, sugradjani i sugradjanke, saborci i saborkinje, od 30. oktobra studenti i studentkinje će u, u znak solidarnost, pešačiti od Beograda do Novog Sada“. Zwar ist dieser Sprachgebrauch nicht systematisch, dennoch ist es ein klares Zeichen für eine sprachliche Gleichberechtigung in dem Land, in welchem gendergerechte Sprache, obwohl gesetzlich seit 2024 verpflichtend, von den herrschenden und einflussreichen politischen und gesellschaftlichen Akteuren vehement abgelehnt und/oder bekämpft werden.
Studierende sind zum zentralen gesellschaftlichen Akteur geworden, sichtbar etwa im Protestbanner „Kad porastem biću student“ („Wenn ich groß werde, werde ich Student“). Besonders Studentinnen aller religiösen, ethnischen und ideologischen Zugehörigkeiten agieren als wirksame Akteurinnen. In Novi Pazar, einer Stadt mit bosniakisch-muslimischer Mehrheit, marschierten Studierende 16 Tage nach Novi Sad, um der Opfer des Bahnhofsunglücks zu gedenken und am großen Protest am 1. November teilzunehmen. Unter ihnen waren Studentinnen mit Hijab und der serbischen Nationalflagge – Frauen, die nicht nur ein Symbol setzten, sondern konkret vorlebten, wie ein multiethnisches, tolerantes Serbien jenseits des bisherigen Regimes aussehen kann. Sie wurden von allen Kommiliton:innen und der gesamten Bevölkerung willkommen geheißen. Politologe Fahrudin Kladničanin beschreibt dies als Zusammenbruch der alten, angstbasierten Ordnung: Nationalismus verliert seine Macht, wenn der „Andere“ nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wird, sondern als Mensch und Mitstreiter. Im September 2025 erhielten Studentinnen den Preis „Eroberung der Freiheit“ für Frauenaktivismus, als Anerkennung für ihren Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Toleranz.
Ein weiterer genderrelevanter Aspekt bei den Protesten ist die Frage nach der Gewaltausübung. Da weibliche Protestierende grundsätzlich als gewaltfrei eingestuft werden (weil für Frauen ein generelles Geschlechterstereotyp als ruhige, gewaltfreie Personen gilt, vgl. Naunov 2025), wird die Polizeigewalt und jegliche Form der Repression gegen Frauen bei Protesten negativ beurteilt. Aus Sicht der Studierenden waren die Proteste von Anfang an gewaltfrei; sie setzten sich physisch, sprachlich und medial für Deeskalation ein. Dennoch wurden Studentinnen und Studenten gleichermaßen von Polizei und Regimeanhänger:innen angegriffen, verhaftet und verletzt. Die Anhänger:innen der Regierungspartei haben im Februar die Novi Sader Studentin Ana V. mit den Schlägern schwere Körperverletzungen zugefügt; die Belgrader Studentin Sonja Ponjavić wurde im Januar auf einer Straßenblockade angefahren; die Belgrader Studentin Nikolina Sinđelić wurde im August nach einer Demo verhaftet und von der Polizei geschlagen und mit Vergewaltigung gedroht. Das sind nur einige der vielen Fällen der genderorientierten Brutalität, die auf die vorherrschende Genderrollen in der autoritären und patriarchalen Gesellschaft zurückgeführt werden können.